
Marx Engels aktuell
Viele sagen, Marx und Engels – geboren zum Beginn des 19. Jahrhunderts – wären nicht mehr aktuell, weil die Zeiten eben heute ganz andere sein. Sie irren. Natürlich kannten beide noch keine Computer und hätten gestaunt über die Erfolge der Raumfahrt. Das, was sie schrieben, ist aber nicht nur wegen ihrer Methode, alles kritisch zu hinterfragen, von bleibendem Wert. Viele ihrer Äußerungen helfen uns heute Lebenden, die moderne Welt besser zu verstehen. Dem soll diese kleine Serie „Marx und Engels aktuell“ dienen. In ihr spiegelt eines unserer Mitglieder einmal im Monat aktuelle Ereignisse an Aussagen der beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus.Vor knapp 130 Jahren, im März 1893, erschien im sozialdemokratischen „Vorwärts“ eine achtteilige Artikelserie von Friedrich Engels unter der Überschrift „Kann Europa abrüsten?“[1] Sie begleitete die damalige Reichstagsdebatte über die Militärvorlage, mit der der damalige Reichskanzler General von Caprivi[2] die Aufrüstung Deutschlands vorantrieb.
Im ersten Teil der Serie, der am 1. März erschien, umriss Engels die Lage:
„Seit fünfundzwanzig Jahren rüstet ganz Europa in bisher unerhörtem Maß. Jeder Großstaat sucht dem andern den Rang abzugewinnen in Kriegsmacht und Kriegsbereitschaft. Deutschland, Frankreich, Russland erschöpfen sich in Anstrengungen, eins das andre zu überbieten. Gerade in diesem Augenblick mutet die deutsche Regierung dem Volk eine neue, so gewaltsame Kraftanspannung zu, dass selbst der gegenwärtige sanfte Reichstag davor zurückbebt. Ist es da nicht Torheit, von Abrüstung zu reden?
Klares Ziel und langer Weg: Die Geburtsurkunde des wissenschaftlichen Sozialismus ist das von Karl Marx und Friedrich Engels an der Jahreswende 1847 zu 1848 niedergeschriebene „Manifest der Kommunistischen Partei“. Dort ist nach einer gründlichen Analyse der bisherigen Menschheitsgeschichte das Banner, unter dem sich diese Kommunistische Partei nach Auffassung der beiden damals recht jungen Feuerköpfe versammeln sollte, klar beschrieben: „Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen…“[1]. Im Anschluss daran sind in aller Offenheit die Schritte skizziert, die eine kommunistische Partei im Zuge einer von ihr mitgestalteten Revolution unternehmen wolle und die allesamt dort, wo es kommunistisch geführte Revolutionen gegeben hat (und geben wird) auch zur Anwendung kamen und kommen werden. Angekündigt sind unter anderem „despotische Eingriffe in das Eigentumsrecht.“ Diese ersten Schritte sind aber nicht das Ziel. Das ist weiter gesteckt: „Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter. … An Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“[2]
Weiterlesen: „Sie setzt die Entwicklung geistiger und materieller Bedingungen voraus…“
Ganze 14 Zeilen auf Seite 7 war es der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) am 25. November 2022 wert, unter der Überschrift „Armut in Deutschland stark gewachsen“ über eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung zu berichten, nach der die Armut im vergangenen Jahrzehnt „deutlich zugenommen“ habe. Die Quote der „sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben, sei zwischen 2010 und 2019 um gut 40 Prozent gestiegen“, wird dort zusammenfassend gemeldet.
Wohlgemerkt: Dies ist eine Studie, die den jüngsten Verarmungsschub, den die heftige Inflation und die anderen Folgen des Wirtschaftskrieges gegen Russland, die sich insbesondere seit dem Frühjahr 2022 in unserem Land entfaltet, noch gar nicht abbildet. Es kann als sicher gelten, dass – kaum gedämpft durch die verschiedenen Wumms- und Doppelwumms-Pakete der Bundesregierung – diese Quote im Winter 2022/23 weiter dramatisch zunimmt.
Am letzten Oktoberwochenende trafen sich in Frankfurt am Main zwei Dutzend Marxistinnen und Marxisten ganz unterschiedlicher Altersgruppen und Berufe, um sich zwei Tage lang mit dem „Menschenbild im Klassenkampf“ zu befassen. Das sieht angesichts der dramatischen Zeiten des Ukraine-Krieges, der Klimakatastrophe, der Inflation und der beinharten Tarifkämpf, vor denen die IG Metall und ver.di stehen, vielleicht wie ein übertriebener Luxus oder gar wie eine Flucht aus der Gegenwart aus. Das ist aber nicht so.
Karl Marx befasste sich schon sehr früh, noch vor der Vertiefung in ökonomische Zusammenhänge, mit der Frage, was den Menschen zum Menschen macht. In seinen im Frühjahr 1845 verfassten „Thesen über Feuerbach“ – da war er noch keine 30 Jahre alt – schreibt er: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“[1]. Instinktiv kämpfen alle reaktionären Ideologen und politischen Kräfte gegen diese Einsicht und versuchen mit ihrer ganzen Medienmacht den Menschen einzutrichtern, sie seien ein der übrigen Gesellschaft gegenüberstehendes Einzelwesen mit ganz besonderen Eigenschaften, die sie im Wettbewerb mit anderen ausprägen müssten, um erfolgreich zu sein. Dies geht bis zu dem bis heute gültigen Glaubensbekenntnis aller Konservativen, das die ehemalige britische Premierministerin Margarete Thatcher in den Satz kleidete: „So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht.“[2]
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