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Die Bedeutung von Wissenschaft und Technik für den Fortschritt der Menschheit

Verständlich ist sie auf den ersten Blick schon angesichts der Perversitäten, die Wissenschaft und Technik unter dem kapitalistischen Regime und erst recht in seinem imperialistischen Zeitalter hervorbringen, diese im Westen zur Zeit wieder zunehmende Feindlichkeit der Wissenschaft und Technik gegenüber. Aber sie ist ein Irrweg.

Als am 17. März 1883 auf dem Friedhof Highgate in London Karl Marx zu Grabe getragen wurde, verglich ihn sein bester Freund Friedrich Engels in seiner Grabrede mit Charles Darwin – wie jener „das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte…“[1]. Im weiteren Verlauf der Würdigung seiner Entdeckungen pries er ihn als „der Mann der Wissenschaft“[2]. Diesen Titel beschränkt Engels ausdrücklich nicht auf die Geisteswissenschaften: „Die Wissenschaft war für ihn eine geschichtlich bewegende, eine revolutionäre Kraft. So reine Freude er haben konnte an einer neuen Entdeckung in irgendeiner theoretischen Wissenschaft, deren praktische Anwendung vielleicht noch gar nicht abzusehen – eine ganz andere Freude empfand er, wenn es sich um eine Entdeckung handelte, die sofort revolutionär eingriff in die Industrie, in die geschichtliche Entwicklung überhaupt. So hat er die Entwicklung der Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizität… genau verfolgt.“

Engels spricht hier nicht nur über seinen Freund, sondern auch über sich selbst: In einem seiner eigenen wichtigsten Werke, der „Dialektik der Natur“, findet sich ein fast 50seitiges Kapitel „Elektrizität“[3], das zeigt, wie intensiv und – bis hin zur Verarbeitung Hegels – er sich mit diesem Phänomen und seinen Auswirkungen auf die menschliche Gattung befasst hat. Die Frage der Wechselwirkungen von Wissenschaft, Technik und gesellschaftlicher Entwicklung steht neben anderen Fragen auch danach im Zentrum der Aufmerksamkeit von Engels. Die Art und Weise, wie er sie bearbeitet, macht deutlich, dass den Gründern des wissenschaftlichen Sozialismus jede Technikfeindlichkeit oder -ablehnung fremd war. In einem ausführlichen Brief an W. Bordius schreibt vom 25. Januar 1894 schreibt Engels: „Unter den ökonomischen Verhältnissen, die wir als bestimmende Basis der Geschichte der Gesellschaft ansehen, verstehen wir die Art und Weise, worin die Menschen einer bestimmten Gesellschaft ihren Lebensunterhalt produzieren und die Produkte untereinander austauschen (soweit Teilung der Arbeit besteht). Also die gesamte Technik der Produktion und des Transports ist da einbegriffen. Diese Technik bestimmt nach unserer Auffassung auch die Art und Weise des Austausches, weiterhin der Verteilung der Produkte und damit, nach der Auflösung der Gentilgesellschaft, auch die Einteilung der Klassen, damit die Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse, damit Staat, Politik, Recht etc. … Wenn die Technik, wie Sie sagen, ja größtenteils vom Stande der Wissenschaft abhängig ist, so noch weit mehr diese vom Stand und den Bedürfnissen der Technik. Hat die Gesellschaft ein technisches Bedürfnis, so hilft das der Wissenschaft mehr voran als zehn Universitäten. Die ganze Hydrostatik (Torricelli etc.) wurde hervorgerufen durch das Bedürfnis der Regelung der Gebirgsströme in Italien im 16. Und 17. Jahrhundert. Von der Elektrizität wissen wir erst etwas Rationelles, seit ihre technische Anwendung entdeckt. In Deutschland hat man sich aber leider daran gewöhnt, die Geschichte der Wissenschaften so zu schreiben, als wären sie vom Himmel gefallen.“[4]

Schon in einem ihrer ersten Werke, im „Kommunistischen Manifest“, weisen Marx und Engels darauf hin, dass die „Bourgeoisie … nicht existieren (kann), ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.“[5] Unter kapitalistischen Bedingungen aber führt die Anwendung der Technik zum „Kampf zwischen Arbeiter und Maschine“, wie ein ganzes Kapitel im „Kapital“ von Marx überschrieben ist.[6] Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen wird „das Arbeitsmittel sofort zum Konkurrenten des Arbeiters selbst“[7]. Bei allem in diesem und den folgenden Kapiteln spürbaren Mitfühlen des Autors mit der Verzweiflung, zu der die pervertierte Anwendung von Technik im Dienste nicht der Arbeiter, sondern des Kapitals führt, pocht er darauf, Technik exakt zu trennen von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie eingesetzt wird. Die Bedeutung dieser Unterscheidung ist ihm so wichtig, dass er an dieser Stelle einen seiner ganz seltenen Ausblicke in eine gesellschaftliche Zukunft wagt: „Wenn die Fabrikgesetzgebung als erste, dem Kapital notdürftig abgerungene Konzession nur Elementarunterricht mit fabrikmäßiger Arbeit verbindet, unterliegt es keinem Zweifel, dass die unvermeidliche Eroberung der politischen Gewalt durch die Arbeiterklasse auch dem technologischen Unterricht, theoretisch und praktisch, seinen Platz in den Arbeiterschulen erobern wird.“[8]

In Konkretisierung dieses grundlegenden Gedankens zieht sich durch alle wesentlichen Überlegungen der Länder, die sich auf den Weg zum Sozialismus gemacht haben und machen. Keine Zurücknahme der Bedeutung von Wissenschaft und Technik, sondern im Gegenteil ihre Höherbewertung ist charakteristisch für den weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung. 

Das ist ein bleibendes Vermächtnis der bisher größten Errungenschaft der marxistischen Bewegung auf deutschem Boden, der DDR. Sowohl aktuell als auch in der Perspektive sind die dort formulierten Ansprüche und Aussagen weiterhin gültig: „Die Wissenschaft ist in ihrem Grundanliegen revolutionär und humanistisch. Ihre Tätigkeit sollte stets darauf gerichtet sein, das Leben der Menschen zu erleichtern und zu verbessern. … Es ist kein Zufall, dass in unserer sozialistischen Gesellschaft die Wissenschaft immer größere Bedeutung erlangt, besteht doch die Hauptaufgabe unserer Politik darin … eine ständige Verbesserung der materiellen und kulturellen Lebensbedingungen des Volkes zu erreichen, dem Wohl des Volkes zu dienen. Die Wissenschaft entwickelt sich unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen. Ihre Verwirklichung, ihre soziale Zielstellung und das Tempo ihrer Entwicklung werden von den Interessen und Zielen derjenigen Klasse bestimmt, die 'im Mittelpunkt dieser oder jener Epoche steht‘. Diese Klasse ist heute und in Zukunft die Arbeiterklasse. Aufgrund ihrer führenden Rolle beim Aufbau des Sozialismus und Kommunismus ist sie zutiefst daran interessiert, die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik zum Nutzen der ganzen Gesellschaft … anzuwenden. Auch in den kapitalistischen Ländern spielen Wissenschaft und Technik eine nicht zu unterschätzende Rolle. … Trotz des wissenschaftlich-technischen Fortschritts wird die Wissenschaft durch die Schranken des kapitalistischen Profitsystems gehemmt. …. Humanistisch denkende Wissenschaftler müssen immer wieder den Missbrauch ihrer Forschungsergebnisse befürchten. Einer der akutesten Gegenwartskonflikte, die die Menschheit gefährden, ergibt sich aus dem wachsenden Gegensatz zwischen den humanitären Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik und der Art und Weise, wie der Imperialismus Wissenschaft und Technik für die Entwicklung immer neuer verheerender Kriegsinstrumente einsetzt.“[9]

Die Tatsache, dass aus Gründen, deren Erörterung den Rahmen dieser Rubrik sprengen würde, dieser erste Anlauf zum Sozialismus auf deutschem Boden 1989 gescheitert ist, ändert an der positiven Grundeinstellung der Marxistinnen und Marxisten gegenüber Wissenschaft und Technik und der Betrachtung des dialektischen Verhältnisses zu den Produktionsverhältnissen nichts. Der in Osteuropa und Russland von 1917 bis 1989 durchgeführte Anlauf war nicht in der Lage, in der Entwicklung von Wissenschaft und Technik gegenüber den imperialistischen Staaten insgesamt in Führung zu gehen. Das scheint mit Blick auf die chinesische Entwicklung dort möglicherweise anders zu sein. In seinem Buch „Chinas langer Marsch in die Moderne“ geht Beat Schneider an mehreren Stellen auch auf die Anstrengungen der 1,4 Milliarden Chinesinnen und Chinesen ein, sich im Bereich von Wissenschaft und Forschung und vor allem ihrer Anwendung für das Alltagsleben an die Spitze der menschlichen Gesellschaften zu setzen – von der Bildung mit ihrem Schwerpunkt auf die hierzulande unter MINT zusammengefassten Fächer über die Kommunikationstechnologie bis hin zu den westliche Autos inzwischen technologisch überlegenen chinesischen Fahrzeugen. Wie sehr dabei die grundlegend veränderten gesellschaftlichen Entwicklungen den Blick auf die Anwendung verändert, macht er unter Hinweis auf das technologisch gestützte chinesische Sozialkredit-System (SCS) deutlich: Chinesinnen und Chinesen „haben mit staatlichen Überwachungsmaßnahmen viel weniger Probleme als die Leute im Westen, wenn dadurch ein geordnetes Zusammenleben und mehr Sicherheit im öffentlichen Raum gewährleistet wird. Die Rolle des Schiedsrichters trauen sie dem Staat eher zu als Privatunternehmen. … Das erklärt sich wohl auch durch die geschichtliche Erfahrung der letzten paar Jahrzehnte … Daraus erwuchs das Verlangen der Bevölkerung nach Ordnung, Berechenbarkeit und Transparenz, mehr als der Wunsch nach Datenschutz und Schutz vor staatlicher Macht.“[10] Ein „Kampf zwischen Arbeiter und Maschine“ ist dort weder auf der Ebene einzelner Fabriken noch gesamtgesellschaftlich auszumachen.

Die Entfaltung von Wissenschaft und Technik für das Wohl der Bevölkerung liegt – zumindest im europäischen Anhängsel des asiatischen Kontinents – folglich nicht hinter, sondern noch vor den hier lebenden Menschen und ihrer Nachkommen.

Manfred Sohn


 
[1] Friedrich Engels, Das Begräbnis von Karl Marx, Marx Engels Werke (im folgenden MEW), Band 19, Berlin 1976, S. 335
[2] Ebenda, S. 336 – wie auch das nachfolgende Zitat
[3] MEW 20, S. 394 ff – geschrieben um 1883 herum, also auch im Todesjahr von Marx
[4] MEW 39, Berlin 1968, S. 205 – Hervorhebungen im Original
[5] MEW 4, Berlin 1974, S. 465
[6] MEW 23, Berlin 1974, S. 451 bis 461
[7] ebenda, S. 454
[8] ebenda, S. 512
[9] Kurt Hager, Wissenschaft und Technologie im Sozialismus, Berlin 1974, S. 15f. Das Zitat, das in dem Text steht,  stammt von Lenin („Unter fremder Flagge“)
[10] Beat Schneider, Chinas langer Marsch in die Moderne, Zwanzig nicht-eurozentristische Thesen, Köln 2023