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Marx und Engels haben die Geburt des deutschen Parlamentarismus ohne die heutige Aufgeblasenheit begleitet

Mit ziemlichem Getöse und Selbstbeweihräucherung hat die politische Spitze des deutschen Staates des Zusammentretens der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt vor 175 Jahren gedacht. Die dort zelebrierte gegenseitige Schulterklopferei ist der Bevölkerung weitgehend am Hintern vorbeigegangen - die Vertrauen in den Berliner Politikbetrieb ist, wie das „Institut für Demoskopie“ in der FAZ am 19.Mai berichtete, „begrenzt. Nur zehn Prozent haben großes, 29 Prozent überhaupt kein Vertrauen.“

Das liegt an der Grundkonstruktion des bürgerlichen Parlamentarismus, der die Klassenherrschaft des Kapitals vor allem verhüllen soll, niemals aber gefährden darf. Die Mehrheit der Bevölkerung ahnt das mindestens und ist nicht davon abzubringen, dass die Wahrheit der prokamierten Demokratie im kapitalistischen Alltag liegt. 

Bei allen Unterschieden zwischen 1848 und heute: Diese Grundkonstellation spielte damals schon eine Rolle, jedenfalls in den Texten von Marx, Engels und ihren Genossen zur Nationalversammlung in der „Neuen Rheinischen Zeitung“, die sie „Organ der Demokratie“ genannt hatten. Dies war sie nicht, wie Franz Mehring in seiner Marx-Biografie 1918 schrieb, „im Sinne irgendeiner parlamentarischen Linken. Nach dieser Ehre geizte sie nicht, vielmehr hielt sie die Überwachung der Demokratie für dringend notwendig.“

Leitfaden im Umgang mit der Nationalversammlung war das „Kommunistische Manifest“: Die revolutionäre Bewegung sollte vorangetrieben werden – „so wie sie nun einmal war.“ (Mehring) Im „Manifest” hieß es: „Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht und weil es diese Umwälzung unter fortgeschrittneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt als England im siebzehnten und Frankreich im achtzehnten Jahrhundert, die deutsche bürgerliche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann.“ Drei Monate, nachdem das geschrieben worden war, brach das Gebäude des deutschen Feudalregimes, des Deutschen Bundes, unter der Wucht der Pariser Februarrevolution widerstandslos zusammen: Am 13. März in Wien, am 18. März in Berlin. Der historische Irrtum von Marx und Engels war nicht, wie Mehring zum 50. Jahrestag der Revolution schrieb, dass sie einen raschen Fortgang zur proletarischen Revolution erwartet hatten. Vielmehr räumte Marx, so Mehring, in den 1860er Jahren ein, er und Engels hätten „angenommen, die deutsche Bourgeoisie würde im Kampf mit dem Absolutismus und Feudalismus die gleiche Courage beweisen, wie die englische Bourgeoisie in demselben Kampf bewiesen habe.” Die deutsche Bourgeoisie aber habe „immer nur die äußerste Feigheit” aufgeboten. Entsprechend war und ist ihr Umgang mit dem Jahr 1848: Entweder nicht über die Revolution reden oder sie als Handstreich von Unruhestiftern darstellen, vor denen sich zu hüten auch heute noch erste Staatsaufgabe sei. In Wirklichkeit hatte die noch schwache deutsche Arbeiterklasse den Blutzoll der Märztage gezahlt, blieb der Revolution treu, stellte sich schützend auch vor die Nationalversammlung, war aber bereits am Tag nach den Ereignissen in Berlin von der Bourgeoisie verraten worden: Arbeiter wurden faktisch von der erkämpften Volksbewaffnung ausgeschlossen. 

Als Marx und Engels am 11. April aus dem revolutionären Paris in Köln ankamen, waren die Märztage bereits verblasst. Das politische Programm der beiden Rückkehrer lautete: Auflösung Preußens und des österreichischen Staates, Beseitigung der Kleinstaaterei und Einigung Deutschlands als Nation und Republik.

In Preußen hatte aber die Bourgeoisie das Heft wieder in der Hand und schanzte der Monarchie und dem Junkertum die Macht zu. In den Mittel- und Kleinstaaten bestimmten willige liberale Rückgratverbieger die Politik, und die Frankfurter Nationalversammlung, so Mehring 1918, „die aus souveräner Machtvollkommenheit die deutsche Einheit schaffen sollte, erwies sich, sobald sie am 18. Mai zusammentrat, von vornherein als hoffnungsloser Schwatzklub.” Mehring weiter: „Mit diesem Schattenwesen rechnete die ‚Neue Rheinische Zeitung‘ gleich in der ersten Nummer ab, und zwar so gründlich, dass die Hälfte ihrer wenig zahlreichen Aktionäre den Rückzug antrat.” 

Am 7. Juni hieß es in der Zeitung, die sich auf stenographische Mitschriften des Parlaments stützte: „Eine konstituierende Nationalversammlung muss vor allem eine aktive, evolutionär-aktive Versammlung sein. Die Versammlung in Frankfurt macht parlamentarische Schulübungen und lässt die Regierungen handeln. Gesetzt, es gelänge diesem gelehrten Konzil nach allerreifster Überlegung, die beste Tagesordnung und die beste Verfassung auszuklügeln, was nutzt die beste Tagesordnung und die beste Verfassung, wenn die Regierungen unterdes die Bajonette auf die Tagesordnung setzen?” (MEW Band 5, Seite 40) Es sei unbegreiflich, wie die sogenannte radikal-demokratische Partei „eine Föderation von konstitutionellen Monarchien, Fürstentümchen und Republikchen ... als schließliche Verfassung Deutschlands hat proklamieren lassen.” (Ebenda, Seite 41)

Die Nationalversammlung aber wählte am 29. Juni den österreichischen Erzherzog Johann zum Reichsverweser und spielte der Konterrevolution in die Hände. Am selben Tag erschien in der „Neuen Rheinischen Zeitung” einer der gewaltigsten Artikel von Marx überhaupt, in dem er das von der Gegenrevolution in der „Juniinsurrektion” vom 22. bis zum 26. Juni abgeschlachtete Pariser Proletariat feierte. Der Text kostete, merkte Mehring an, der Zeitung „die andere Hälfte ihrer Aktionäre.”

Die Bourgeoisie ging nun in allen Ländern Europas Bündnisse mit der Reaktion ein. Am 28. März 1849 nahm die Frankfurter Nationalversammlung die erste bürgerliche Verfassung Deutschlands an. Sie verlangte zwar eine stärkere staatliche Zentralisation, aber nicht die Gründung einer einigen demokratischen Republik. Dennoch lehnten die großen deutschen Staaten ab. Als daraufhin Volksmassen für die Anerkennung der Verfassung zu kämpfen begannen, ließ die Bourgeoisie sie im Stich. Insofern steht die Frankfurter Verfassung auch für den Verrat des deutschen Bürgertums an der eigenen Demokratie.

In der Rückschau fielen die Urteile von Marx und Engels über die Nationalversammlung schärfer aus als 1848. Engels schrieb 1852 rückblickend in „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“, die Nationalversammlung sei eine Körperschaft gewesen, „so abnorm, so lächerlich schon durch die Stellung, die sie einnahm, und dabei so erfüllt von ihrer eigenen Wichtigkeit, dass die Geschichte höchstwahrscheinlich nie ein Gegenstück dazu liefern wird.” Sie hätte anfangs die Gelegenheit gehabt, den parallel existierenden Bundestag des Deutschen Bundes aufzulösen und eine Bundesregierung einzusetzen, „wenn sie auch nur einen Funken von Energie besessen” hätte (MEW Band 8, Seite 45) Aber: „Diese Versammlung alter Weiber hatte vom ersten Tag ihres Bestehens mehr Angst vor der geringsten Volksbewegung als vor sämtlichen reaktionären Komplotten sämtlicher deutscher Regierungen zusammengenommen“. (Ebenda, Seite 46) 175 Jahre später hat sich an dieser Konstellation im Wesen nichts geändert.

Arnold Schölzel

 

(Der Text ist zuerst in der Wochenzeitung „unsere zeit“ am 19. Mai 2023 erschienen und wurde redaktionell leicht bearbeitet.)