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Ach, hätten sie doch nicht seit dem nun schon 50 Jahre zurückliegenden Start der Berufsverbote für alles kommunistisch Verdächtige marxistischer Wissenschaftler aus den Hochschulen in Deutschland vertrieben! Dann hätten die politischen Entscheidungsträger wenigstens ein paar Akademiker gehabt, die sie vor dem Irrtum gewarnt hätten, die Sanktionen gegen Russland, die sich seit dem 24. Februar immer mehr entfalten, würden dort viel, hier aber wenig Schaden anrichten.

Als das Gewitter erst noch aufzog, aber die EU bereits Sanktionen androhte, kursierten bereits die Rechnungen, die den politischen Entscheidungsträgern die Eröffnung des Wirtschaftskrieges gegen Russland erleichtern sollten. Hermann Simon beispielsweise, der wahrscheinlich gut verdienende Gründer der „Unternehmensberatung Simon-Kucher & Partner“ wunderte sich am 22. Februar in der FAZ, „dass die wirtschaftliche Lage Russlands in der öffentlichen Diskussion um die aktuelle Ukrainekrise fast vollständig außen vor“ bliebe. Dessen Wirtschaftskraft werde völlig überschätzt. Sie betrage nur „7,2 Prozent der amerikanischen Wirtschaftsleistung“ oder „10,9 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung“ – mit gegenüber den Vorjahren jeweils abnehmender Tendenz. Auch die „russische Exportstärke“ werde überschätzt. Sie läge „bei weniger als ein Drittel der deutschen Exporte“, ihre Struktur sei „extrem einseitig“ und entfalle zu „drei Vierteln“ auf Öl und Gas. Das sollte heißen: Ein Wirtschaftskrieg gegen einen solchen Zwerg würden die Riesen USA und EU leicht gewinnen.

Viele andere Belege für solche Berechnungen ließen sich anführen.

Gäbe es Marxistinnen und Marxisten an den Hochschulen, hätten sie darauf hingewiesen, dass dieser Berechnung eine Verwechslung von Tausch- mit Gebrauchswerten zugrunde läge. Denn diese Rechnung erfasst nur Tauschwerte. Die Bedeutung von Warengruppen für das Leben der Menschen hat aber mit ihrem Tauschwert wenig zu tun. Sie hätten das schon den Anfängern im „Kapitalkurs I“ beigebracht – und damit wären wir bei den ersten beiden Sätzen des Hauptwerkes von Karl Marx:

„Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.“[1]

So beginnt das erste Kapitel, das mit „Die Ware“ überschrieben ist, zu dem Marx selbst in seinem Vorwort warnend schreibt: „Aller Anfang ist schwer, gilt in jeder Wissenschaft. Das Verständnis des ersten Kapitels, namentlich des Abschnitts, der die Analyse der Ware enthält, wird daher die meiste Schwierigkeit machen.“[2]

Gegen Ende dieses Kapitels, im Abschnitt über den „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ schreibt er denn auch: „Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken.“[3]

Die Volkswirte und Publizisten, die im Januar, Februar und März so flott mutigen Sanktionen das Wort redeten, sind aber über Trivialitäten nie hinausgekommen – so mussten erst in Angesicht eines drohenden Zusammenbruchs nicht etwa der russischen, sondern der deutschen Volkswirtschaft auf den Boden der von Marx entdeckten Tatsachen zurückgeholt werden.

Der Londoner „Economist“ beschwor am 19. März angesichts des heraufziehenden Weltwirtschaftskrieges, „liberale Regierungen“ müssten „einen neuen Pfad finden“, der „Offenheit und Sicherheit“ kombiniere und verhindere, „dass der Traum der Globalisierung sauer wird“.  Eine Woche vorher hatte er die Zahlen des „ökonomischen Fallouts“ von Krieg und Sanktionen in einer „special section“ zusammengefasst, die hier zu referieren den Rahmen dieser kurzen Hinweise auf Marx sprengen würde. Aber die Kernzahlen lesen sich eben völlig anders als vor den Sanktionsbeschlüssen: Russland ist Nummer eins, zwei und drei beim Export von Gas, Öl bzw. Kohle. Es steht für die Hälfte der Uran-Importe in die USA, ein Zehntel des in der Welt verbauten Aluminiums und Kupfers, es dominiert den Handel mit Palladium, ohne das Verbrennungsmotoren nicht durch Elektromotoren ersetzt werden können. Zusammen mit der Ukraine steht das Land nicht nur für 30 Prozent aller Weizenexporte, sondern beide markieren auch die Spitze beim Handel mit Gerste, Mais, Sonnenblumen und insgesamt 12 Prozent aller Kalorien, die weltweit gehandelt werden. Russland allein ist der größte Exporteur von Pottasche, dem Düngerzusatz, ohne den die industrielle Landwirtschaft nicht denkbar ist.

Das Geschäftsmodell des Wertewestens beruht in seinem Kern darin, aufgrund seiner historisch durch Ökonomie, Politik und Militär erkämpften Dominanz den Tausch- über den Gebrauchtwert zu stellen und dies auch weltweit durchsetzen zu können: Rohstoffe mit hohem Gebrauchswert werden zu niedrigem Tauschwert eingekauft, unter Führung der westlichen beherrschten Konzerne bei Hinzufügung hochqualifizierter Arbeitskraft angereichert und der in ihnen enthaltene Mehrwert zum Schluss zu hohem Tauschwert auf den Weltmärkten realisiert.

In Krisen wie der, die sich jetzt entfaltet, zählt aber nicht der Tausch-, sondern der Gebrauchswert einer Ware. Wer glaubt, Russlands Durchhaltevermögen hinge davon ab, dass US-amerikanische Unternehmen Rindfleischscheiben zwischen zwei Brötchenhälften packen dürfen oder dass US-amerikanische Programme auf chinesischen Smartphones laufen, lernt nun, dass in Krisen die Belieferung mit Weizen, Nickel, Pottasche, Öl und Gas – also Dingen, die vor der Krise eher geringe Tauschwerte hatten – das ist, was zählt.

Wo dieser „Grainstorm“, wie der „Economist“ das Unwetter, in dem wir nun stecken, noch hinführt, ist ungewiss. Vor allem die drohende völlige Zerrüttung des weltweiten Nahrungsmittelmarktes wird menschliche, ökonomische und politische Folgewirkungen haben, die vorher niemand von denen auf dem Sprechzettel hatte, auf dem das Ausrufen des großen Wirtschaftskrieges vermerkt war. Die Folgen werden nicht nur die Hungernden in Afrika und Asien, sondern auch Millionen Menschen in der EU zu tragen haben – durch massiven Rückgang des Lebensstandards, der weit über ein bisschen Frieren hinausgehen wird.

Wer wenigstens das erste Kapitel vom „Kapital“ gelesen und verstanden hätte, würde die Sanktionskeule, die jetzt wütet, nicht so fröhlich und leichtfertig geschwungen haben.

Manfred Sohn

 

[1] Karl Marx, Das Kapital, Marx-Engels-Werke Band 23, Berlin 1974, S. 49

[2] ebenda, S. 11

[3] ebenda, S. 85