Logo Marx-engels-StiftungMarx-Engels-Stiftung e.V. · Gathe 55 · 42107 Wuppertal · Tel: +49 202 456504 · marx-engels-stiftung@t-online.de

Eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung war die Vereinigung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands im Mai 1875. Karl Marx und Friedrich Engels plädierten für die Vereinigung dieser beiden Organisationen zu einer einheitlichen Partei. Der Programmentwurf aber rief nicht nur bei Ihnen heftigen Widerspruch hervor. Auch August Bebel und der damals in engem Kontakt zu Marx stehende Braunschweiger Arbeiterführer Wilhelm Bracke runzelten vernehmlich die Stirn. Bracke schrieb am 25. März 1975 an Engels: „Das für den ‚Vereinigungskongreß‘ vorgelegte Programm … zwingt mich zu diesen Zeilen. Die Annahme dieses Programms ist für mich unmöglich, und auch Bebel ist derselben Meinung für sich.“[1] Bracke empört sich insbesondere über die Forderung der Einführung von „Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe … Da aber Bebel entschlossen scheint, den Kampf aufzunehmen, würde ich mindestens mich gedrängt fühlen, ihn nach Kräften zu unterstützen. Vorher möchte ich doch gern wissen, wie Sie und Marx über die Angelegenheit denken.“[2]

Marx verfaßt daraufhin die berühmt gewordenen „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“[3], die unter anderem eine Skizze der frühen und der reifen kommunistischen Gesellschaft beinhalten und ein Musterbeispiel für eine kritische Analyse eines Parteiprogramms sind.

Marx schickt seine Randglossen mit einem Begleitschreiben am 5. Mai 1875 an Bracke, in dem es heißt: „Nach abgehaltnem Koalitionskongreß werden Engels und ich … eine kurze Erklärung veröffentlichen, des Inhalts, daß wir besagtem Prinzipienprogramm durchaus fernstehen und nichts damit zu tun haben“[4], betont aber gleichzeitig: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.“

Beides – die scharfe kritische Analyse eines Programms und die Konfrontation des Programms einer Partei mit ihren praktischen Handlungen – ist auch in den heutigen bewegten Zeiten für alle diejenigen, die sich in der Tradition von Marx und Engels sehen, von großer Bedeutung.

Die geltenden Programme von zwei deutschen Parteien, die sich auf die alte deutsche Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts berufen und aus ihr nach vielen historischen Weichenstellungen hervorgegangen sind, sind einer scharfen Analyse wert. Darauf soll hier sowohl hinsichtlich der Sozialdemokratischen Partei (SPD) als auch der Partei „Die Linke“ (PdL) verzichtet werden. Nicht verzichtet werden kann aber in Anlehnung der Aussage von Marx, jeder Schritt wirklicher Bewegung sei wichtiger als ein Dutzend Programme auf die Untersuchung des Spannungsverhältnisses von Programmen und realen politischen Bewegungen. Das gilt nicht nur für Schritte nach vorne, sondern auch für solche nach hinten.

Zunächst zur SPD. In deren gültigen Grundsatzprogramm von 2007 findet sich der klare Satz: „Krieg darf kein Mittel der Politik sein.“ Am Dienstag, den 21. Juni 2022 referiert der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil morgens auf einem Kongreß zur „Zeitenwende“, den die parteinahe Friedrich-Ebert-Stiftung organisiert hat. Deutschland, formuliert er dort, müsse „Führungsmacht“ werden und dabei auch militärische Gewalt als Mittel der Politik anerkennen. Am nächsten Tag jubelt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) auf Seite 1: „Deutschland müsse Führungsmacht sein wollen und militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik ansehen – dass ein Vorsitzender der SPD solche Forderungen erheben könnte, war noch vor einem halben Jahr kaum vorstellbar gewesen.“ Das Programm ist in der zentralen Frage von Krieg und Frieden abgeräumt.

Kurze Zeit später wiederholt sich die Entwertung jahrelanger programmatischer Debatten in der anderen, nicht ganz so bedeutenden Partei, die sich in der Traditionslinie der SPD des 19. Jahrhunderts sieht. Auf dem Bundesparteitag der PdL, der vom 24. bis 26. Juni in Leipzig tagte, geht es in der zentralen politischen Debatte um einen „Leitantrag“ des Parteivorstands zu Frage von Krieg und Frieden. Der Änderungsantrag 137.1 fordert, einen Satz aus dem Erfurter Parteiprogramm von 2011 in diesen Text zu integrieren und damit am „Ziel der Auflösung der NATO und ihrer Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als ein zentrales Ziel hat“, festzuhalten. 269 Delegierte stimmen gegen den Antrag, 166 dafür, 39 enthalten sich – eine zentrale Aussage des gültigen Programms ist für die „wirkliche Bewegung“ abgeräumt.

Es wird hohe Zeit, die Kombination einer scharfen kritischen Analyse von Parteiprogrammen und gleichzeitig die Konfrontation von wirklicher Bewegung mit den Programmen wiederzubeleben. Marx‘ Randglossen von 1875 können ein guter Ausgangspunkt sein – auch heute noch.

Manfred Sohn

 

[1] Marx/Engels Werke (MEW), Band 34, Berlin 1966, S. 571 (Anmerkung 234)

[2] ebenda

[3] S. MEW Band 19, S. 15ff

[4] MEW 34, S. 137