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Vor knapp 130 Jahren, im März 1893, erschien im sozialdemokratischen „Vorwärts“ eine achtteilige Artikelserie von Friedrich Engels unter der Überschrift „Kann Europa abrüsten?“[1] Sie begleitete die damalige Reichstagsdebatte über die Militärvorlage, mit der der damalige Reichskanzler General von Caprivi[2] die Aufrüstung Deutschlands vorantrieb.

Im ersten Teil der Serie, der am 1. März erschien, umriss Engels die Lage:

„Seit fünfundzwanzig Jahren rüstet ganz Europa in bisher unerhörtem Maß. Jeder Großstaat sucht dem andern den Rang abzugewinnen in Kriegsmacht und Kriegsbereitschaft. Deutschland, Frankreich, Russland erschöpfen sich in Anstrengungen, eins das andre zu überbieten. Gerade in diesem Augenblick mutet die deutsche Regierung dem Volk eine neue, so gewaltsame Kraftanspannung zu, dass selbst der gegenwärtige sanfte Reichstag davor zurückbebt. Ist es da nicht Torheit, von Abrüstung zu reden?

Und doch rufen in allen Ländern die Volksklassen, die fast ausschließlich die Masse der Soldaten zu stellen und die Masse der Steuern zu zahlen haben, nach Abrüstung. Und doch hat überall die Anstrengung den Grad erreicht, wo die Kräfte – hier die Rekruten, dort die Gelder, am dritten Ort beide – zu versagen beginnen. Gibt es denn keinen Ausweg aus dieser Sackgasse außer durch einen Verwüstungskrieg, wie die Welt noch keinen gesehn hat?

Ich behaupte: Die Abrüstung und damit die Garantie des Friedens ist möglich, sie ist sogar verhältnismäßig leicht durchführbar, und Deutschland mehr als ein andrer zivilisierter Staat, hat zu ihrer Durchführung die Macht wie den Beruf.“[3]

Angesichts der damals durchaus noch herrschenden revolutionären Stimmung innerhalb der Sozialdemokratie mag das auf den ersten Blick überraschen, denn Engels kündigt hier Vorschläge zur Sicherung des Friedens an, die nicht gekoppelt sind an die Forderung nach einem Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft. Er begründet dies angesichts der Gefahr eines „Verwüstungskrieges wie die Welt noch keinen gesehn hat“.

Die Artikelserie hat so viel Resonanz, dass Ende März dann ein sogenannter „Separatdruck“ der Serie in hoher Auflage erscheint und im ganzen Reich verbreitet wird. Dort wird er im Vorwort noch deutlicher: „Ich versuche, den Beweis zu führen, dass diese Umwandlung[4] schon jetzt möglich ist, auch für die heutigen Regierungen und unter der heutigen politischen Lage. Ich gehe also von dieser Lage aus und schlage einstweilen nur solche Mittel vor, die jede heutige Regierung ohne Gefahr der Landessicherheit annehmen kann. Ich suche nur festzustellen, dass vom rein militärischen Standpunkt der allmählichen Abschaffung der stehenden Heere absolut nichts im Wege steht; und dass, wenn trotzdem diese Heere aufrechterhalten werden, dies nicht aus militärischen, sondern aus politischen Gründen geschieht, dass also mit einem Wort die Armeen schützen sollen nicht so sehr gegen den äußern wie gegen den innern Feind.“[5] Und im selben Vorwort wird die Gefahr beschworen, dass die Aufrüstung entweder getrieben werden zu einem „Grad, wo … die Völker durch die Militärlast ökonomisch“ ruiniert würden oder die Aufrüstung „in einen allgemeinen Vernichtungskrieg ausarten muss“.[6]

Das ist eine hochaktuelle Überlegung: Wenn ein „Vernichtungskrieg“ droht, dann gilt es bis zum offenen Kriegsausbruch alle Anstrengungen zu unternehmen, um diese Gefahr abzuwenden – auch ohne den perspektivisch zwingend notwendigen Systembruch zur Voraussetzung der Sammlung der Kräfte gegen diesen Vernichtungskrieg zu machen.

Folglich entwickelt Engels mit der ganzen ihm eigenen militärischen Sachkunde ein detailliertes Programm, wie Europa abrüsten könnte, um diesen Vernichtungskrieg abzuwenden. Von diesem Programm ist vieles auf unsere Zeit nicht übertragbar. Damals gab es weder Panzer noch Flugzeuge geschweige denn Atomwaffen. Die Kernfrage, die Engels beschäftigt, ist die Möglichkeit der Abschaffung der Massenheere, deren Vernichtungspotential durch Veränderungen der Militärtechnik sich vervielfacht habe. Ausführlich beschreibt er diese gewaltigen Veränderungen:

„Es ist ein sonderbarer Kontrast: Unsere höheren Militärs sind gerade in ihrem Fach so entsetzlich konservativ, und doch gibt es heute kaum ein andres Gebiet, das so revolutionär ist wie das militärische. Zwischen dem glatten Sechspfünder und der siebenpfündigen Haubitze … und den heutigen gezogenen Hinterladungsgeschützen … scheinen Jahrhunderte zu liegen.“ Wir lebten, analysiert er, „inmitten dieser ununterbrochenen Revolutionierung der technischen Grundlagen der Kriegsführung“[7]. Dies ist bei allen skizzierten Unterschieden zwischen der damaligen und der heutigen Kriegsgefahr hoch aktuell: Gerade die Revolutionierung der Waffentechnik, die ja mit dem 6. August 1945 nicht zum Abschluss gekommen ist, bringt erstens eine so große Labilisierung der militärischen Gleichgewichte, dass ein vermeintlicher, vorübergehender Vorsprung des einen Landes dazu führen kann, dass dieses Land einen solchen Vorsprung für einen schnellen Sieg im Präventivkrieg nutzen will, bevor er vom anderen nivelliert wird. Zweitens führte damals die Kombination von Massenheer und technischer Revolutionierung des Militärwesens zu der Gefahr ökonomischer Erschöpfung selbst ohne Krieg wie heute die immer mehr Ressourcen verschlingende Entwicklung und Wartung hochkomplexer Waffensysteme.

Durchaus konkret und nicht nur methodisch aktuell ist sein Hinweis auf die Bedeutung der Offiziere für die schnelle Mobilisierung neuer Truppen im Kriegsfall: „In allen früheren Kriegen fehlten nach ein paar Monaten Feldzug die Offiziere.“[8] Dies sei ein besonders ausgeprägtes Problem für Russland, das er wie die anderen an der damaligen Aufrüstungsspirale beteiligten Nationen sehr detailliert analysiert: „Zu einer Armee gehören nicht nur Rekruten, sondern auch Offiziere. Und damit sieht es in Russland schofel aus.“[9]

Schließlich heißt er in der Artikelserie dem selbstgefälligen deutschen Philister kräftig ein, der sich im Bewusstsein seiner seit 1866 scheinbar ungebrochenen und auch in Zukunft unbrechbaren Siegesserie einen Dreck um einmal abgeschlossene Verträge kümmerte: „Wir dürfen nicht vergessen: Die siebenundzwanzig Jahre Bismarckwirtschaft haben Deutschland – nicht mit Unrecht – im ganzen Ausland verhasst gemacht. Weder die Annexion der nordschleswigschen Dänen noch die … Annexion Elsass-Lothringens  … hatten mit der Herstellung der ‚nationalen Einheit‘ das geringste zu tun. Bismarck hat es verstanden, Deutschland in der Ruf der Ländergier zu bringen…“[10] Angesichts dessen wäre es angesichts des Wiederauflebens finsterster deutscher Großmachträumereien nicht schlecht, die überall noch vorhandenen Bismarckdenkmäler ins Visier zu nehmen.

Das alles aber muss angesichts der gegenüber der Lage von vor 130 Jahren noch viel größeren Gefahr eines auch Deutschland verschlingenden „Vernichtungskrieges“ zurücktreten. Es muss entlang der Grundgedanken dieser Artikelserie gelingen, „Europa abrüsten“ zu lassen. Zur nüchternen Bestandsaufnahme gehört allerdings auch dies: So vernünftig Engels Vorschläge im Grundsätzlichen wie auch im Konkreten waren – sie blieben ohne praktische Wirkung in der politischen Landschaft. Den Preis dieser Ignoranz der Vernunft gegenüber zahlten gut 20 Jahre später genau diejenigen jungen Männer aus den unteren Volksklassen, deren Ströme von Blut der alte Engels schon kommen sah und die zu vermeiden er verzweifelt versuchte.

Manfred Sohn


 
[1] Vollständig abgedruckt und hier zitiert nach Marx Engels Werke (MEW), Band 22, Berlin 1963, S. 369 - 399
[2] Caprivi verfolgte damals den Kurs einer Annäherung an England; die Militärvorlage konzentrierte sich daher auf eine massive Aufrüstung des Heeres, nicht der Marine. Einer seiner ersten Amtshandlungen war die Nichtverlängerung des sgn. „Rückversicherungsvertrags“ mit Russland, was zu einer Annährung von Russland und Frankreich führte, die sich dann bis 1914 vertiefte. Der mit Großbritannien 1890 geschlossene „Helgoland-Sansibar-Vertrag“ beinhaltete einen Tausch, durch den Deutschland sich die Insel Helgoland einverleiben konnte. Die später vom Kaiser forcierte Hochrüstung zur See trug Caprivi nicht mit, da sie seiner Meinung nach – völlig zu Recht, wie der weitere Geschichtsverlauf zeigte – zu einer Konfrontation mit der damals dominierenden Weltmacht Großbritannien führen würde. Damit war seine vierjährige Amtszeit dann am Ende.
[3] MEW 22, a.a.O., S. 373
[4] Gemeint ist die Umwandlung stehender Heere in Milizen, die auf allgemeiner Volksbewaffnung beruhen.
[5] Ebenda, S. 371
[6] ebenda
[7] Ebenda, S. 380
[8] Ebenda, S. 386
[9] Ebenda, S. 387
[10] Ebenda, S. 397