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In der „Neuen Rheinischen Zeitung“, in der linke Revolutionäre unter Leitung ihres Chefredakteurs Karl Marx die aufwühlenden Ereignisse aus den Jahren 1848/49 berichtend und kommentierend begleiteten, erschien am 17. Mai 1849 die Notiz, dass am 10. Mai „Friedrich Engels, Redakteur der ‚Neuen Rheinischen Zeitung‘ von Köln nach Elberfeld“[1] gegangen sei und „von Solingen aus zwei Kisten Patronen“ mitgenommen hätte, „welche beim Sturm des Gräfrather Zeughauses durch die Solinger Arbeiter erbeutet worden waren.“ In Elberfeld angekommen stellte er sich dem dortigen „Sicherheitsausschuss“ zur Verfügung, der ihn sofort beauftragte, „sämtliche Barrikaden der Stadt zu inspizieren und die Befestigungen zu vervollständigen“. Schon einen Tag später wurde ihm die gesamte Artillerie der Aufständischen unterstellt. Er selbst hatte sich bei den Aufständischen mit dem Hinweis zur Verfügung gestellt, er sei unter anderem hier, weil er „in militärischer Beziehung vielleicht nützlich verwandt werden könne“[2].

Engels war also, das erhellt diese Textstelle, nicht nur ein Mann des Wortes, sondern auch der Tat. Sie erhellt zweitens, dass weder er noch die in seiner und Marxens Tradition stehende Menschen Pazifisten, also grundsätzliche Gegner jeder Anwendung von Gewalt gewesen waren. Sie waren es nicht und sind es auch heute nicht.

Der im November 1820 in Barmen, einen Nachbarort von Elberfeld, geborene Engels hatte sich für geschichtliche und damit auch militärische Fragen schon während seiner Schulzeit stark interessiert. Mit 21 Jahren trat er einen einjährigen Militärdienst an und wurde zum Artilleristen – damals die technisch fortschrittlichste Waffengattung – ausgebildet. Nach der 48er Revolution nahm er – beginnend in Elberfeld – teil an den Anfang Mai 1849 beginnenden Aufständen zum Schutz der gesamtdeutschen Verfassung. Nach der Niederschlagung dieser Aufstände intensiviert Engels seine militärtheoretischen und –praktischen Studien und bekommt, inzwischen mit Marx zusammen ins Exil gezwungen, in England von seinen Freundeskreisen den Spitznahmen „General“ auf’s Auge gedrückt[3].  

Zwischen ihm und Marx bestand zwar eine Arbeitsteilung hinsichtlich der jeweiligen Forschungsschwerpunkte, durch die Marx die Behandlung militärischer Fragen weitgehend seinem Freund Friedrich überließ. Inhaltlich aber gab es in dieser Frage zwischen den beiden keine Differenzen. Schon in seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ hatte Marx angemerkt: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt…“[4]

Zu den gemeinsamen Überzeugungen beider gehörte die Abscheu gegenüber der Gewaltherrschaft des Kapitals, das bluttriefend zur bis heute anhaltenden Weltherrschaft gekommen war und dessen Herrschaft aus der Sicht der beiden auch deshalb überwunden werden musste, weil für sie eine Abschaffung der Kriege ohne Abschaffung des Kapitalismus undenkbar war. Sie waren erbitterte Gegner des preußischen Militarismus, dessen Entwicklung sie seit ihren Jugendjahren kritisierten und dessen Ausprägung im deutschen Kaiserreich der alte Engels in seinen letzten Lebensjahrzehnten miterleben musste. Sie waren Pazifisten im Ziel einer Welt ohne Armeen und Militär – sahen aber, dass dieses Ziel ein schöner Traum bleibt, bevor nicht das Privateigentum an Produktionsmitteln und damit verknüpft die auf der Profitmaximierung basierenden Tausch- und Geldwirtschaft aufgehoben und durch eine Gesellschaft ohne Privateigentum an Produktionsmitteln und Plan- statt Tauschwirtschaft ersetzt ist.

Engels Verdienst bestand in militärischen Fragen unter anderen darin, dass er keinerlei Schematismus und vor allem keinerlei Abtrennung militärischer von gesellschaftlichen und ökonomischen Fragen zuließ. Den damaligen Autoren beim Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU ist auch mit Blick auf die heutige Bewertung der Arbeiten von Engels durchaus zuzustimmen, als sie in den 60er Jahren des letzten Jahrhundert resümierten: „Ein großes Verdienst Engels‘ ist es, dass er als erster zum Studium der Kriegsgeschichte und zur Analyse der Armeen seiner Zeit die einzige wissenschaftliche Methode, die Methode des dialektischen und historischen Materialismus anwandte. Zum Unterschied von den bürgerlichen idealistischen Historikern, die nicht imstande waren, die Entwicklung der bewaffneten Streitkräfte als einen gesetzmäßigen Prozess darzustellen, zeigte Engels, dass diese Entwicklung, wie auch andere gesellschaftliche Erscheinungen, in letzter Instanz bestimmt wird durch die Veränderung in der materiellen Produktionsweise, die die ökonomische Basis der Gesellschaft bildet.“[5]

Als sich Engels auf Drängen seiner Genossen in seinen späteren Lebensjahren entscheidet, seinen „Anti-Dühring“ zu schreiben, in denen er grundlegende Gedanken aus dem Wirken von Marx und ihm gegen den in der SPD aufkommenden Reformismus verteidigt, widmet er – Dühring (ver)folgend – militärischen Fragen einen großen Raum und stellt bei aller Anerkennung des Faktors der Moral der Kämpfenden im Kriege fest: „Also der Revolver siegt über den Degen, und damit wird es doch wohl auch dem kindlichsten Axiomatiker begreiflich sein, dass die Gewalt kein bloßer Willensakt ist, sondern sehr reale Vorbedingungen zu ihrer Betätigung erfordert, namentlich Werkzeuge, von denen das vollkommnere das unvollkommnere überwindet; dass ferner diese Werkzeuge produziert sein müssen, womit zugleich gesagt ist, dass der Produzent vollkommnerer Gewaltwerkzeuge, vulgo Waffen, den Produzenten der unvollkommneren besiegt, und dass, mit einem Wort, der Sieg der Gewalt beruht auf der Produktion von Waffen, und diese wieder auf der Produktion überhaupt, also – auf der ‚ökonomischen Macht‘, auf der ‚Wirtschaftslage‘, auf den der Gewalt zur Verfügung stehenden materiellen Mitteln.“[6]

Engels verfolgt die Entwicklung der materiellen Grundlagen der Gewalt und ihrer Materialisierung im Kriege kontinuierlich während seines ganzen Lebens, das ihm nolens volens reichlich Material für diese Studien bot. Er analysiert und kommentiert nicht nur die militärischen Entwicklungen während der 48/49er-Revolution in Deutschland, sondern unter anderen auch die des Krimkrieges 1853-56, des nordamerikanischen Bürgerkrieges 1861-1865 und des deutsch-französischen Krieges 1870/71.

Er thematisiert auch die Auswirkungen der Veränderungen der technischen Basis des Krieges auf die Frage der revolutionären Strategie und Taktik und stellt in einer 1895[7] verfassten Einleitung zu Marx‘ Schrift über die „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ angesichts der Entwicklung vor allem der Artillerie fest: „Heißt das, dass in Zukunft der Straßenkampf keine Rolle mehr spielen wird? Durchaus nicht. Es heißt nur, dass die Bedingungen seit 1848 weit ungünstiger für die Zivilkämpfer, weit günstiger für das Militär geworden sind. Ein künftiger Straßenkampf kann also nur siegen, wenn diese Ungunst der Lage durch andere Momente aufgewogen wird. Es wird daher seltener am Anfang einer großen Revolution vorkommen als im weiteren Verlauf einer solchen und wird mit größeren Kräften unternommen werden müssen. Diese werden dann wohl, wie in der ganzen großen französischen Revolution, am 4. September und 31. Oktober 1870 in Paris, den offenen Angriff der passiven Barrikadentaktik vorziehen.“[8]

Die Veränderungen der technischen Grundlagen der Gewalt haben immer wieder die Hoffnung geweckt, allein durch den Umfang und das Grauen der massenhaften maschinellen Zerstörung menschlichen Lebens werde die Gewaltfrage gelöst. Das war so, als Alfred Nobel selbst davon ausging, seine Entdeckung des Dynamits würde Kriege so verändern, dass sie in Zukunft nicht mehr geführt würden. Nach den Abwürfen von zwei Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 durch die US-amerikanische Luftwaffe hielten viele – auch im westlich geprägten Marxismus – die intensive Befassung mit militärischen Fragen für überholt, weil Kriege nach Hiroshima nicht mehr führbar wären. Das hat sich schon im Korea-Krieg in den 1950er Jahren und noch mehr im langen und blutigen Krieg der USA gegen Vietnam in den späten 60er und 70er Jahren als Illusion herausgestellt. Unsere heutige Gegenwart bekräftigt die Notwendigkeit, sich vom marxistischen Standpunkt aus mit militärischen Fragen auch unter den Bedingungen nuklearer Bewaffnung der kriegführenden Mächte mit Engel’scher Sorgfalt, humanistischer Entschlossenheit, Krieg in die Geschichtsbücher zu verbannen und gleichzeitiger Nüchternheit Kriegen der Gegenwart gegenüber zu befassen.

Engels Einsichten versetzten ihn auch in die Lage, Prognosen abzugeben, die über seinen eigenen Tod hinauswiesen – so wie die einer drohenden Konfrontation mit Russland aufgrund der ständigen Aufrüstung Preußens: „Tragikom(ischer) Konflikt: der Staat muss politische Kriege führen für entfernte Interessen, die nie nationale Begeisterung erregen, und hat dazu eine Armee nötig, die nur zur nationalen Verteidigung und der daraus unmittelbar folgenden Offensive taugt (1814 und 1870). In diesem Konflikt geht der preußische Staat und die preußische Armee kaputt – wahrscheinlich in einem Krieg mit Russland, der 4 Jahre dauern kann und wo nichts zu holen als Krankheiten und zerschoßne Knochen…“[9]

Angewendet auf unsere heutige Zeit ist - leider - zu unterstreichen, was Kai Köhler am 19. September 2022 mit Verweis auf Friedrich Engels formulierte: „Angesichts einer Zukunft, die von Kriegen gezeichnet sein wird, braucht die Linke nicht nur Friedenswissenschaftler, sondern Leute, die militärische Verläufe zu analysieren verstehen.“[10] Wer sich dieser immer wichtiger werdenden Aufgabe annimmt, beginnt am besten bei Friedrich Engels.

Manfred Sohn


 
[1] Heute ein Stadtteil von Wuppertal
[2] Alle Zitate bis hierhin aus Marx Engels Werke (MEW), Band 6, Berlin 1959, S. 500f
[3] Einen sehr guten Überblick über Engels‘ militärtheoretische Studien gibt das aus dem russischen übersetzte Buch von A.I.Babin, Die Herausbildung und Entwicklung des militärtheoretischen Ansichten von Friedrich Engels, Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, o.J. (Original erschienen 1975)
[4] Ebenda, MEW 1, Berlin 1974, S. 385
[5] MEW Band 14, Vorwort, S. VIIf. Dieser Teil der Werke enthält auf fast 400 Seiten Ergebnisse der zuweilen kühl und herzlos anmutenden grundlegenden Studien von Engels zur materiellen Basis der Kriegsführung zu seiner Zeit.
[6] Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in: MEW 20, Berlin 1962, S. 154, Hervorhebungen im Original
[7] also nach dem Tode von Marx verfasst
[8] Ebenda, MEW 22, Berlin 1963, S. 522
[9] Varia über Deutschland, geschrieben Anfang 1874, in MEW 18, Berlin 1973, S. 594
[10] Kai Köhler, Hilflos im modernen Krieg, jungeWelt vom 19.09.2022