Marx Engels aktuell
Viele sagen, Marx und Engels – geboren zum Beginn des 19. Jahrhunderts – wären nicht mehr aktuell, weil die Zeiten eben heute ganz andere sein. Sie irren. Natürlich kannten beide noch keine Computer und hätten gestaunt über die Erfolge der Raumfahrt. Das, was sie schrieben, ist aber nicht nur wegen ihrer Methode, alles kritisch zu hinterfragen, von bleibendem Wert. Viele ihrer Äußerungen helfen uns heute Lebenden, die moderne Welt besser zu verstehen. Dem soll diese kleine Serie „Marx und Engels aktuell“ dienen. In ihr spiegelt eines unserer Mitglieder einmal im Monat aktuelle Ereignisse an Aussagen der beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus.Ganze 14 Zeilen auf Seite 7 war es der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) am 25. November 2022 wert, unter der Überschrift „Armut in Deutschland stark gewachsen“ über eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung zu berichten, nach der die Armut im vergangenen Jahrzehnt „deutlich zugenommen“ habe. Die Quote der „sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben, sei zwischen 2010 und 2019 um gut 40 Prozent gestiegen“, wird dort zusammenfassend gemeldet.
Wohlgemerkt: Dies ist eine Studie, die den jüngsten Verarmungsschub, den die heftige Inflation und die anderen Folgen des Wirtschaftskrieges gegen Russland, die sich insbesondere seit dem Frühjahr 2022 in unserem Land entfaltet, noch gar nicht abbildet. Es kann als sicher gelten, dass – kaum gedämpft durch die verschiedenen Wumms- und Doppelwumms-Pakete der Bundesregierung – diese Quote im Winter 2022/23 weiter dramatisch zunimmt.
Am letzten Oktoberwochenende trafen sich in Frankfurt am Main zwei Dutzend Marxistinnen und Marxisten ganz unterschiedlicher Altersgruppen und Berufe, um sich zwei Tage lang mit dem „Menschenbild im Klassenkampf“ zu befassen. Das sieht angesichts der dramatischen Zeiten des Ukraine-Krieges, der Klimakatastrophe, der Inflation und der beinharten Tarifkämpf, vor denen die IG Metall und ver.di stehen, vielleicht wie ein übertriebener Luxus oder gar wie eine Flucht aus der Gegenwart aus. Das ist aber nicht so.
Karl Marx befasste sich schon sehr früh, noch vor der Vertiefung in ökonomische Zusammenhänge, mit der Frage, was den Menschen zum Menschen macht. In seinen im Frühjahr 1845 verfassten „Thesen über Feuerbach“ – da war er noch keine 30 Jahre alt – schreibt er: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“[1]. Instinktiv kämpfen alle reaktionären Ideologen und politischen Kräfte gegen diese Einsicht und versuchen mit ihrer ganzen Medienmacht den Menschen einzutrichtern, sie seien ein der übrigen Gesellschaft gegenüberstehendes Einzelwesen mit ganz besonderen Eigenschaften, die sie im Wettbewerb mit anderen ausprägen müssten, um erfolgreich zu sein. Dies geht bis zu dem bis heute gültigen Glaubensbekenntnis aller Konservativen, das die ehemalige britische Premierministerin Margarete Thatcher in den Satz kleidete: „So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht.“[2]
Weiterlesen: Gattungsvermögen, Kooperation und die kommenden Streiks
In der „Neuen Rheinischen Zeitung“, in der linke Revolutionäre unter Leitung ihres Chefredakteurs Karl Marx die aufwühlenden Ereignisse aus den Jahren 1848/49 berichtend und kommentierend begleiteten, erschien am 17. Mai 1849 die Notiz, dass am 10. Mai „Friedrich Engels, Redakteur der ‚Neuen Rheinischen Zeitung‘ von Köln nach Elberfeld“[1] gegangen sei und „von Solingen aus zwei Kisten Patronen“ mitgenommen hätte, „welche beim Sturm des Gräfrather Zeughauses durch die Solinger Arbeiter erbeutet worden waren.“ In Elberfeld angekommen stellte er sich dem dortigen „Sicherheitsausschuss“ zur Verfügung, der ihn sofort beauftragte, „sämtliche Barrikaden der Stadt zu inspizieren und die Befestigungen zu vervollständigen“. Schon einen Tag später wurde ihm die gesamte Artillerie der Aufständischen unterstellt. Er selbst hatte sich bei den Aufständischen mit dem Hinweis zur Verfügung gestellt, er sei unter anderem hier, weil er „in militärischer Beziehung vielleicht nützlich verwandt werden könne“[2].
Engels war also, das erhellt diese Textstelle, nicht nur ein Mann des Wortes, sondern auch der Tat. Sie erhellt zweitens, dass weder er noch die in seiner und Marxens Tradition stehende Menschen Pazifisten, also grundsätzliche Gegner jeder Anwendung von Gewalt gewesen waren. Sie waren es nicht und sind es auch heute nicht.
Weiterlesen: „… in militärischer Hinsicht vielleicht nützlich…“
Hannes Wader ist wohl der bedeutendste noch lebende von den alten Liedermachern, die die 70er und 80er Jahre in der Bundesrepublik maßgeblich prägten. Kurz nach seinem 80. Geburtstag ist von ihm eine wunderschöne CD mit dem Titel „Noch hier“ erschienen. Dort findet sich ein Lied mit dem unscheinbaren Titel „Vorm Bahnhof“. Er singt dort von den durch die zunehmende Technisierung nicht nur der materiellen Produktion, sondern auch des Dienstleistungsbereiches überflüssig gewordenen Angestellten, vom „Hassepidemievirus“, der die Welt immer mehr zugrunde richtet und von den Algorithmen seines Smartphones, die viel schlauer seien als er selbst, dessen Gedächtnis „Risse“ bekäme.
In das Lied sind an den zentralen Stellen Zitate eingestreut von jemandem, der das alles, was Wader trotzig-trauernd-kämpferisch beschreibt, „schon vor 160 Jahren“ wusste. Die Zitate stammen allesamt aus dem Text einer der kürzesten und prägnantesten Reden, die Karl Marx je gehalten hat – die auf der Jahresfeier des „People’s Paper“ am 14. April 1856 in London[1].
Gegenwärtig bereiten sich nicht nur die Medien, sondern auch die Gewerkschaften und mit ihnen hunderttausende von Arbeiterinnen, Arbeitern und Angestellten unseres Landes auf die Lohnrunden im kommenden Herbst vor. Es wird Maßhalteappelle hageln und allerlei großformatige Zeitungsartikel und Talk-Show-Monologe staatlich besoldeter und zusätzlich von Unternehmen cofinanzierter Ökonomieprofessoren geben, die ‚nachweisen‘, dass entweder in unseren Zeiten keine Reallohnerhöhungen möglich wären oder sie, wenn die sturen Gewerkschaftsbosse sie durchsetzen sollten, den Tariflohnempfängern sogar unter dem Strich durch umso höhere Inflation schaden würden.
Innerhalb vieler Betriebe und auch in mancher gewerkschaftlicher Diskussion von Betriebsgruppen, in den Personal- und Betriebsratsbüros oder auf Zusammenkünften gibt es dagegen eine gewisse intellektuelle Hilf- und Wehrlosigkeit. Die Zeiten seien angesichts des Ukraine-Krieges eben so, wird gesagt und es wird zuweilen angefügt, ja, die Lohn-Preis-Spirale sei in Wirklichkeit eine Preis-Lohn-Spirale, aber eine Spirale sei sie trotzdem und wenn jetzt erst die Löhne, danach aber gleich die Preise steigen würden, wäre ja auch nichts gewonnen für uns hier unten. Dagegen gibt es dann in mancher Debatte ein instinktiv richtiges „Ist mir egal, ich brauch‘ mehr Geld und meine Kinder brauchen’s auch!“, aber die theoretische Verunsicherung nagt an der kollektiven Kampfentschlossenheit.
Weiterlesen: „… Steigerung der Lohnrate … Warenpreise zu beeinflussen“
Eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung war die Vereinigung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands im Mai 1875. Karl Marx und Friedrich Engels plädierten für die Vereinigung dieser beiden Organisationen zu einer einheitlichen Partei. Der Programmentwurf aber rief nicht nur bei Ihnen heftigen Widerspruch hervor. Auch August Bebel und der damals in engem Kontakt zu Marx stehende Braunschweiger Arbeiterführer Wilhelm Bracke runzelten vernehmlich die Stirn. Bracke schrieb am 25. März 1975 an Engels: „Das für den ‚Vereinigungskongreß‘ vorgelegte Programm … zwingt mich zu diesen Zeilen. Die Annahme dieses Programms ist für mich unmöglich, und auch Bebel ist derselben Meinung für sich.“[1] Bracke empört sich insbesondere über die Forderung der Einführung von „Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe … Da aber Bebel entschlossen scheint, den Kampf aufzunehmen, würde ich mindestens mich gedrängt fühlen, ihn nach Kräften zu unterstützen. Vorher möchte ich doch gern wissen, wie Sie und Marx über die Angelegenheit denken.“[2]
Marx verfaßt daraufhin die berühmt gewordenen „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“[3], die unter anderem eine Skizze der frühen und der reifen kommunistischen Gesellschaft beinhalten und ein Musterbeispiel für eine kritische Analyse eines Parteiprogramms sind.
Der Krieg in der Ukraine beherrscht zurzeit alle politischen Debatten. Er schiebt sich damit auch wie eine alles überdeckende Schicht aus Wörtern über die scheinbar der Vergangenheit angehörenden Diskussionen um die drohende Klimakatastrophe. Diese Diskussionen werden aber über kurz über lang wieder an die Oberfläche kommen wie ein Korken, der sich eben nicht unter Wasser halten lässt, weil ihn seine Auftriebskräfte immer wieder nach oben treiben.
Die umweltpolitischen Debatten des Jahres 2023ff werden aber andere sein als die der Jahre vor 2022. Das hat drei Gründe. Zum einen werden sie noch dramatischer werden als die hinter uns liegenden Diskussionen, weil es der Natur herzlich egal ist, ob Kriege zwischen Zweibeinern ihr Augenmerk ablenken von Klimaverschiebungen, Insektensterben und dem sprudelnden Leben neuer Viren, die im Kontakt zwischen Mensch und Tier entstehen – diese Prozesse laufen weiter. Zweitens macht der Krieg und mehr noch die Reaktion der NATO-Staaten auf ihn alles nur noch schlimmer. Selbst wenn die Panzerhaubitzen, die unsere Bundesregierung nun in alter Tradition nach Osten in Marsch setzen will, mit Biodiesel fahren würden und vegane Munition verwenden – ein Ding wie einen umweltschonenden Krieg gibt es nicht. Krieg ist spätestens seit Beginn des Industriezeitalters immer nicht nur Vernichtung menschlichen Lebens, sondern auch Vernichtung pflanzlichen und tierischen Lebens. Drittens aber verwandelt der Krieg das früher einmal frische Grün der nach dieser schönen Farbe benannten Regierungspartei, die Außen- und Umweltministerin stellt, immer mehr in ein hässliches Olivgrün. Es lässt ahnen: Nicht die „Grünen“ werden, wie sie in ihrer Gründungszeit verkündeten, den Kapitalismus besiegen und überwinden. Der Kapitalismus hat die „Grünen“ besiegt und zu einer olivgrünen Kriegspartei deformiert. Es gibt keine Lösung der immer weiter wuchernden, selbst geschaffenen ökologischen Probleme dieses Planeten ohne Überwindung des Kapitalismus:
Zu den Hochzeiten der Globalisierung gab es – oft in Verbindung mit der Erinnerung an den 200. Geburtstag von Karl Marx 2018 – weltweit eine Verneigung an das „Kommunistische Manifest“, in dem er und Friedrich Engels auf den Drang zur Herstellung eines einheitlichen Weltmarkts hingewiesen hatten: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet.“1
Zehn Jahre nach diesem 1848 veröffentlichten Manifest formuliert Marx – inzwischen nach London emigriert - in einem Brief an Engels, der zu der Zeit in Manchester unter anderem das Geld verdient, das seinem Freund die Studien ermöglicht, aus denen dann „Das Kapital“ entsteht, diesen Gedanken noch schärfer: „Wir können nicht leugnen, daß die bürgerliche Gesellschaft zum 2tenmal ihr 16tes Jahrhundert erlebt hat, ein 16tes Jahrhundert, von dem ich hoffe, daß es sie ebenso zu Grabe läutet, wie das erste sie ins Leben poussierte. Die eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Herstellung des Weltmarkts, wenigstens den Umrissen nach, und einer auf seiner Basis beruhenden Produktion. Da die Welt rund ist, scheint dies mit der Kolonisation von Kalifornien und Australien und dem Aufschluß von China und Japan zum Abschluß gebracht.“2
Weiterlesen: „eigentliche Aufgabe … die Herstellung des Weltmarkts“
Ach, hätten sie doch nicht seit dem nun schon 50 Jahre zurückliegenden Start der Berufsverbote für alles kommunistisch Verdächtige marxistischer Wissenschaftler aus den Hochschulen in Deutschland vertrieben! Dann hätten die politischen Entscheidungsträger wenigstens ein paar Akademiker gehabt, die sie vor dem Irrtum gewarnt hätten, die Sanktionen gegen Russland, die sich seit dem 24. Februar immer mehr entfalten, würden dort viel, hier aber wenig Schaden anrichten.
Als das Gewitter erst noch aufzog, aber die EU bereits Sanktionen androhte, kursierten bereits die Rechnungen, die den politischen Entscheidungsträgern die Eröffnung des Wirtschaftskrieges gegen Russland erleichtern sollten. Hermann Simon beispielsweise, der wahrscheinlich gut verdienende Gründer der „Unternehmensberatung Simon-Kucher & Partner“ wunderte sich am 22. Februar in der FAZ, „dass die wirtschaftliche Lage Russlands in der öffentlichen Diskussion um die aktuelle Ukrainekrise fast vollständig außen vor“ bliebe. Dessen Wirtschaftskraft werde völlig überschätzt. Sie betrage nur „7,2 Prozent der amerikanischen Wirtschaftsleistung“ oder „10,9 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung“ – mit gegenüber den Vorjahren jeweils abnehmender Tendenz. Auch die „russische Exportstärke“ werde überschätzt. Sie läge „bei weniger als ein Drittel der deutschen Exporte“, ihre Struktur sei „extrem einseitig“ und entfalle zu „drei Vierteln“ auf Öl und Gas. Das sollte heißen: Ein Wirtschaftskrieg gegen einen solchen Zwerg würden die Riesen USA und EU leicht gewinnen.
Viele andere Belege für solche Berechnungen ließen sich anführen.
Gäbe es Marxistinnen und Marxisten an den Hochschulen, hätten sie darauf hingewiesen, dass dieser Berechnung eine Verwechslung von Tausch- mit Gebrauchswerten zugrunde läge. Denn diese Rechnung erfasst nur Tauschwerte. Die Bedeutung von Warengruppen für das Leben der Menschen hat aber mit ihrem Tauschwert wenig zu tun. Sie hätten das schon den Anfängern im „Kapitalkurs I“ beigebracht – und damit wären wir bei den ersten beiden Sätzen des Hauptwerkes von Karl Marx:
Weiterlesen: Sanktionen – oder: „Eine Ware … ein sehr vertracktes Ding…“
Der dritte Band des „Kapital“ von Karl Marx ist zu recht vor allem berühmt geworden durch seinen dritten Abschnitt, der das „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ behandelt. Solange das Grundprinzip der Gesellschaft der Austausch von Waren ist, die von Privateigentümern an Grund und Boden und Produktionsmitteln durch die Ausbeutung der von ihnen gekauften Ware Arbeitskraft ist, muß der einzelne Kapitalist bei Strafe seines Untergangs den tendenziellen Fall der Profitrate, die im Mittelpunkt seines ganzen Strebens steht, ausgleichen durch die Steigerung der Profitmasse – also durch Expansion in neue Märkte und das Zerstören von Konkurrenten.
Im Schatten dieses gut 50 Druckseiten umfassenden dritten Abschnitts steht der fast 200 Seiten starke sechste Abschnitt, der den Titel „Verwandlung von Surplusprofit in Grundrente“ trägt. Sich durch dieses dicke Brett durchzubeißen lohnt auch heute noch, weil diese Arbeit das Verständnis für die kommende Balgerei auf dem Sektor der Agrarindustrie und der sogenannten extraktiven Industrien, also denen, die verwertbare Materialien aus der Erdkruste herausbrechen und vermarkten, erleichtert.
Der genannte Abschnitt gehört zu einem noch größeren Teil des III. Bandes des Kapital, der sich unter verschiedenen Aspekten befaßt mit der Frage, wie eigentlich der durch die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft erbeutete Profit verteilt in Unternehmergewinn, Zins, Wuchergewinn, Gewinn der Vermieter – und eben Grundrente.
Weiterlesen: Wir sind nicht Eigentümer der Erde - sondern nur ihre Nutznießer