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Marx und Engels zu Religion und Kirche

Gleich drei Ereignisse der letzten Wochen und Monate werfen die Frage des Verhältnisses von Marxistinnen und Marxisten zu Religion und Kirche auf. Manche Jubiläumsfeiern zur 500. Jahrestag der deutschen Bauernkriege erweckten den Anschein, es wäre damals um einen Kampf der Kräfte um den Christen Martin Luther und denen um den Christen Thomas Münzer hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Auslegung der Bibel gegangen. Der 266. Wechsel des Papstes von Franziskus zu Leo hat selbst innerhalb der kommunistischen Partei dieses Landes zu einem kleinen Streit geführt, wie sie es mit Christen und Kirche halten solle und der 39. Evangelische Kirchentag in Hannover hat gezeigt, dass diese Institution in der Friedensfrage erkennbar nach rechts rückt und damit die Frage nach der Rolle der Christen in der Friedensbewegung neu belebt.

Karl Marx und Friedrich Engels wuchsen auf in einer Zeit der Nachwehen, in denen sich in heftigsten Auseinandersetzungen die Aufklärung von den Fesseln und Geißeln der katholischen Kirche und ihrer Abspaltungen befreit und die Vernunft an die Stelle des Glaubens gesetzt hatte. Zu ihrer Zeit war die Kirche, die vor Galileo und seiner Erkenntnis das Knie beugen musste, dass die Erde eine Kugel sei, die um die Sonne kreise und folglich nicht der Mittelpunkt der Welt, eine geschlagene, aber immer noch große geistige und materielle Macht.

Insofern ist es folgerichtig, dass gleich der erste Band der gesammelten Werke der beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus die Grundlagen enthält, auf deren Boden alle Menschen wirken, die sich selbst in der Tradition von Marx und Engels sehen:

„Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik. …

Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine wahre Wirklichkeit sucht und finden muß. …

Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. … Die Religion … ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.

Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirklich Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“[1]

Dieser Begriff – Opium des Volks – ist viel zitiert. Die weitere Entfaltung des Umgangs der beiden mit diesem Phänomen der menschlichen Entwicklungsgeschichte zeigt aber nicht nur, dass weder Marx noch Engels damit dahinter ein Häkchen gesetzt hätten und der Meinung gewesen wären, damit sei die Sache für sie erledigt. Bei sorgfältigem Lesen enthüllen das die zitierten Sätze bereits. Denn es ist zwar vom „religiösen Elend“ die Rede, aber eben auch von der „Protestation gegen das wirkliche Elend“. Die Kritik an der Religion schließt also die Anerkennung der Protestation gegen das Elend in religiöser Verbrämung ein. Wäre dem nicht so, wäre die hohe Anerkennung, die Friedrich Engels in seiner Arbeit zum Bauernkrieg nicht verständlich, in der er die „revolutionäre Energie und Entschlossenheit Münzers“ als Gegenbeispiel zur „Fürstendienerei Luthers“[2] preist.

Dieses Verhältnis von Kritik und Anerkennung klingt bei Marx bereits durch, wenn er nach den oben zitierten Absätzen fortfährt: „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertals, dessen Heiligenschein die Religion ist. … Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren.“[3]

Von dort zieht sich bis in unsere Tage eine in sich konsistente Linie zum Verhältnis von Sozialismus und Religion durch die ersten 170 Jahre der kommunistischen Bewegung. Die entscheidende Bresche schlug diese Bewegung in die Phalanx imperialistischer Mächte bekanntlich in Russland und der damalige Sieg ist verbunden mit einem diese beiden Seiten des Verhältnisses zur Religion berücksichtigenden Herangehen. Wladimir Iljitsch Lenin setzte sich im Dezember 1905 – also mitten in der damaligen Revolutionsphase in Russland - in der „Nowaja Shisn“ mit dieser Frage ausführlich in einem Artikel unter der Überschrift „Sozialismus und Revolution“ auseinander. Fußend auf die Arbeiten von Marx und Engels und ihre Formulierung vom „Opium des Volks“ aufgreifend, referiert er dort deren Religionskritik und fordert die „völlig Trennung der Kirche vom Staat“, um dann die Frage aufzuwerfen: „Wenn dem so ist, warum erklären wir in unserem Programm nicht, dass wir Atheisten sind? Warum verwehren wir es Christen und Gottesgläubigen nicht, in unsere Partei einzutreten?“[4] Er beantwortet diese Frage so: „Es wäre unsinnig, zu glauben, man könne in einer Gesellschaft, die auf schrankenloser Unterdrückung und Verrohung der Arbeitermassen aufgebaut ist, die religiösen Vorurteile auf rein propagandistischem Wege zerstreuen. Es wäre bürgerliche Beschränktheit, zu vergessen, dass der auf der Menschheit lastende Druck der Religion nur Produkt und Spiegelbild des ökonomischen Drucks innerhalb der Gesellschaft ist. Durch keine Broschüren, durch keine Propaganda, kann man das Proletariat aufklären, wenn es nicht durch seinen eigenen Kampf gegen die finsteren Mächte des Kapitalismus aufgeklärt wird. Die Einheit dieses wirklichen revolutionären Kampfes der unterdrückten Klasse für ein Paradies auf Erden ist uns wichtiger als die Einheit der Meinungen der Proletarier über das Paradies im Himmel. Das ist der Grund, warum wir in unserem Programm von unserem Atheismus nicht sprechen und nicht sprechen dürfen; das ist der Grund, warum wir den Proletariern, die noch diese oder jene Überreste der alten Vorurteile bewahrt haben, die Annäherung an unsere Partei nicht verwehren und nicht verwehren dürfen. … Das revolutionäre Proletariat wird durchsetzen, dass die Religion für den Staat wirklich zur Privatsache wird. Und unter diesem, vom mittelalterlichen Moder gesäuberten politischen Regime wird das Proletariat einen breiten und offenen Kampf führen, um die ökonomische Sklaverei, diese wahre Quelle der religiösen Verdummung der Menschheit zu beseitigen.“[5]

Diese Toleranz gegenüber dem Aberglauben aller Art bedeutet keine Toleranz gegenüber der Institution Kirche, wenn sie in der Tradition Luthers zum Instrument der barbarischen Unterdrückung von Volkserhebungen und Kriegen gegen andere Völker wird. Hinsichtlich der engen Verquickung der christlichen Kirchen mit den herrschenden Klassen insbesondere in Europa und den USA darf es keine Illusionen geben. Völlig illusionslos stellt Marx bereits im Vorwort zu seinem Hauptwerk, dem „Kapital“, klar: „Auf dem Gebiete der politischen Ökonomie begegnet die freie wissenschaftliche Forschung nicht nur demselben Feinde wie auf allen anderen Gebieten. Die eigentümliche Natur des Stoffes, den sie behandelt, ruft wider sie die heftigsten, kleinlichsten und gehässigsten Leidenschaften der menschlichen Brust, die Furien des Privatinteresses, auf den Kampfplatz. Die englische Hochkirche z.B. verzeiht eher den Angriff auf 38 von ihren 39 Glaubensartikeln als auf 1/39 ihres Geldeinkommens.“[6]

Kurz und gut: Die Fronten des Klassenkampfes, den wir führen, verlaufen nicht sauber entlang der Linie „Atheisten gegen Irrationalisten“, sondern komplizierter, auch innerhalb der verschiedenen Glaubensgemeinschaften und selbst innerhalb der mit den herrschenden Klassen verwobenen Staatskirchen. Folgerichtig läßt die Führung der chinesischen kommunistischen Partei Wladimir Putin, der mal Kommunist war, sich aber inzwischen selbst „schon wieder verloren hat“ seinen neu erworbenen christlichen Glauben seine Privatsache sein und achtet auf das, was er politisch-praktisch tut, um seinen Teil der Vollendung des antikolonialen Befreiungskampfes als Voraussetzung für die Entwicklung einer Welt ohne Profiherrschaft beizutragen. Völlig richtig ist entsprechend diesem Herangehen die Anerkennung von Günter Pohl gegenüber dem verstorbenen Papst Franziskus, den er als einen „Freund der nichteuropäischen Menschheit, einen Kriegsgegner sowie einen Unfehlbarkeitsskeptiker“ würdigte[7]. Die Tatsache, dass er für die „Spottschrift“[8], in der er diese Anerkennung unterbrachte, von anderer Seite heftig kritisiert wurde, bekräftigt Lenins Rat, sich in der Frage der Bewertung religiöser Überzeugungen und Gefühle nicht zu verkämpfen.

Sowohl den russischen Bolschewisten als auch den deutschen Kommunisten ist es im Verlaufe ihrer Geschichte mehrfach gelungen, Christen auf ihre Seite zu ziehen – Wilhelm Rettler aus der „Lutherstadt Wittenberg“ spricht mit Blick auf die DKP in den 1980er Jahren von „50 evangelischen Pfarrern in unseren Reihen“[9] und in jenen Zeiten gab es auf evangelischen Kirchentagen für die hannoversche DKP sogar die Möglichkeit, in einem eigenen Zelt für die Zusammenarbeit von Christen und Kommunisten vor allem in der Friedensfrage zu werben. Noch erfolgreicher war die DDR, deren „Weißenseer Kreis“, diese Frage in den Mittelpunkt stellend, unter anderem vom Vater der späteren BRD-Kanzlerin Angela Merkel, dem Pastor Horst Kasner, unterstützt wurde,[10] der 1954 einen Tag vor der Geburt seiner Tochter nicht etwa von der DDR in die BRD, sondern von der BRD in die DDR übergesiedelt war.

Der Kampf der Klassen wogt auch hier allerdings hin und her. Der jüngste Kirchentag in Hannover hat seine Türen nicht nur gegenüber Kommunisten geschlossen, sondern auch die frühere Ratsvorsitzende der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) Margot Käßmann an den Rand gedrängt. Sie hatte sich noch mit den Worten „Nichts ist gut in Afghanistan“ gegen die Lüge gewandt, Deutschlands Freiheit werde am Hindukusch verteidigt. Der 39. Evangelische Kirchentag, freute sich am 5. Mai 2025 Reinhard Bingener auf Seite 1 der „Frankfurter Allgemeine“, „entfernt sich vom Erbe der Friedensbewegung, während er am Erbe der Umweltbewegung festhält.“ Die EKD rückt also wieder näher an den Geist der Gürtelschnallen sowohl der Reichswehr als auch der Wehrmacht heran, auf denen bekanntlich millionenfach „Gott mit uns“ eingeprägt war und steht nun nach außen geschlossen hinter der Lüge, Deutschlands Freiheit müsse in Kiew und Vilnius verteidigt werden. Diese Entwicklungen müssen ebenso nüchtern berücksichtigt werden, wie die noch ausstehende Antwort auf die Frage, ob der neue Papst sich zu einem ebenso klaren „Kriegsgegner“ entwickelt wie der alte.

Manfred Sohn


 
[1]Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, in: Marx Engels Werke (MEW), Band 1, Berlin 1974, S. 378, Hervorhebungen wie auch in den folgenden Zitaten im Original
[2]Friedrich Engels, Der deutsche Bauernkrieg, in: MEW 7, Berlin 1973, S. 358
[3]Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 379
[4]Wladimir Iljitsch Lenin, Sozialismus und Religion, in: Lenin, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band II, Frankfurt 1970, S. 202
[5]Ebenda, S. 203f
[6]Karl Marx, Das Kapital, Vorwort zur ersten Auflage, MEW 23, Berlin 1974, S. 16
[7]Günther Pohl, Gott allein zuhause, in „Unsere Zeit“, 25. April 2025
[8]so in derselben Zeitung am 9. Mai Wilhelm Rettler
[9]ebenda
[10]Der Autor dieses Artikels hat auf Einladung von Hanfried Müller selbst nach 1989 mehrfach die von ihm als Ehre und großes Vergnügen empfundene Möglichkeit gehabt, im Weißenseer Kreis zu referieren und zu diskutieren und eine hohe Achtung vor dem Wirken der Christen dort – wie auch denen im Westen, von denen für viele andere nur Erwin Eckert genannt sei, dem Martin Balzer jüngst ein Denkmal gesetzt hat, indem er im „Neue Impulse Verlag“ dessen 1945-1959 gehaltenen Reden und Texte herausgegeben hat.