Marx, Engels, die Sozialistengesetze und der heute drohende Staatsumbau
Geschichte wiederholt sich nicht. Das gilt für die Machtübertragung an die NSDAP im Januar 1933 wie für der Sieg der faschistischen italienischen Bewegung in den 1920er Jahren – und natürlich genauso für die Welle von Unterdrückung, die der deutsche Reichskanzler Bismarck im vorletzten Jahrhundert gegen die deutsche Sozialdemokratie in Gang setzte.
Die Heranziehung historischer Ereignisse ist dennoch nützlich. Sie darf nur nicht dazu verführen, alle aktuellen Verschärfungen der politischen Lage zu verbiegen, auch wenn es nach den faschistischen Verbrechen der Jahre 1933 bis 1945 verständlich ist, dass der Begriff „Faschismus“ schnell auf politische Bewegungen geklebt wird, die bekämpft werden müssen.
Vor den letzten Bundestagswahlen ist es dem damaligen Regierungslager gelungen, Millionen Menschen auf die Straße zu mobilisieren, um die vermeintlich von der AfD ausgehende faschistische Gefahr abzuwehren. Das war dieselbe Regierung, deren „Verteidigungsminister“ – der sich vielleicht in US-amerikanischer Gefolgschaft auch bald Kriegsminister nennt – dazu aufrief, in fünf Jahren „kriegsfähig“ zu werden. Das war die Regierung, die – wie die jetzige – die Unterstützung des völkermordenden Staates Israel zu deutschen Staatsräson erklärte. Antifaschismus wurde und wird so zu einem Vorhang, hinter dem Kriege vorbereitet werden und ein Völkermord gerechtfertigt wird. Wie konnte es dazu kommen?
Das konnte und kann geschehen, weil in den letzten 40 Jahren der Begriff des Faschismus in den Köpfen von Millionen entleert worden ist. Faschismus ist kein Synonym für „Scheiße“, keine moralische Kategorie, sondern eine Klassenfrage. Er wurde vom deutschen Imperialismus 1933 benötigt, um nach dem verlorenen Weltkrieg einen zweiten Anlauf zur europäischen und danach Weltherrschaft zu organisieren. Das schien den treibenden Kräften unter Aufrechterhaltung des damaligen bürgerlich-parlamentarischen Systems nicht mehr möglich – also forcierten sie den Übergang zur offenen Diktatur. Die Verbindung des Faschismus-Begriffs mit der Klassenfrage war in Deutschland unter Einfluß der DDR selbst auf die Diskussionen zwischen Rhein und Elbe weitgehend klar. Mit der Zerstörung und Einverleibung der DDR verschwand dieses Bewußtsein und den herrschenden Medien ist es seitdem gelungen, in Millionen Köpfen Faschismus vor allem mit „Judenverfolgung“ gleichzusetzen – und folglich Antifaschismus mit Nibelungentreue zu Israel.
Historisch darf eine weitere Tatsache nicht übersehen werden: Der diesen Globus auspressende Kapitalismus und Imperialismus bedarf in seiner Normalform nicht der offenen Diktatur. Die Unterjochung der halben Welt durch den britischen Kolonialismus spielte sich im Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus ab und seine Planungen fanden in der gediegenen Atmosphäre von Whitehall statt. Die USA benötigten weder für den Vietnam- noch für den Irak-Krieg Faschismus.
Auch in Deutschland blieben in den Jahren 1910 bis 1918 Verfassung und Parlament bestehen. Aber um kriegsfähig zu werden, mussten in seinem Rahmen die Repressionsinstrumente ausgebaut werden – die da unter anderem waren: Verteilung von Flugblättern des Spartakus-Bundes mit Polizeigewalt unterbinden, Streiks der Munitionsarbeiter niederschlagen, Rosa Luxemburg ins Gefängnis stecken, Karl Liebknecht an die Front mit der unverhohlenen Hoffnung schicken, dass ihn dort die Kugel eines französischen Klassenbruders niederstreckt. Das alles blieb im Verfassungsrahmen – bei Stärkung der Exekutive gegenüber dem zunehmend an den Rand gedrückten Parlament und einer von Jahr zu Jahr sich steigernden Unterdrückung jeder antimilitaristischen oder gar sozialistischen Aufklärung.
Zu Lebzeiten von Karl Marx und Friedrich Engels gab es schon einmal eine Periode massiver Zuspitzung der inneren Repression, die jeder kapitalistische Staat stets mindestens in den Schubladen einsatzbereit hält.
Kurz zum Hintergrund: Als die Feiern zur Gründung des deutschen Reiches 1871 abgeklungen waren, sahen sich Kaiser Wilhelm I. und sein Reichskanzler Otto von Bismarck nicht nur mit einer hartnäckigen Wirtschaftskrise, sondern auch mit einem stetigen Anwachsen der sozialdemokratischen Bewegung konfrontiert. Schlimmer noch: Innerhalb dieser Bewegung setzten sich nach heftigen Auseinandersetzungen die Gedanken von Karl Marx und Friedrich Engels immer mehr durch. Bismarck ließ daraufhin Gesetze vorbereiten, mit denen sozialistische und kommunistische Vereinigungen und die Verbreitung ihrer Ideen verboten werden sollten. Da es im Reichstag für eine solche Unterdrückungsorgie keine Mehrheit gab, wartete der schlaue Kanzler auf einen Anlaß. Der schien gekommen, als am 11. Mai 1878 der arbeitslose Klempnergeselle Max Hödel ein Attentat auf den Kaiser und seine Tochter Luise verübte. Er schoß zwar vorbei, aber als das Gerücht gestreut wurde, der Attentäter sei Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei, zog der Kanzler die vorbereiteten Gesetze aus der Schublade und begründete sie mit dem Hinweis auf das Attentat. Peinlich: Der Klempnergeselle war zwar mal Mitglied der Sozialisten, aber wegen Unterschlagung von Parteigeldern aus der Partei geflogen. Bismarck bekam für seine Gesetze keine Mehrheit im Reichstag. Als kurze Zeit später, am 2. Juni 1871, ein zweites Attentat auf Wilhelm I. erfolgte und der von 30 Schrotkugeln getroffen wurde, löste Bismarck den Reichstag auf, half beim Anheizen einer heftigen Empörungswelle, durch die sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament änderten und peitschte im Herbst desselben Jahres seine Sozialistengesetze durch den Reichstag. Die sozialdemokratische Partei sah sich auf breiter Front in die Illegalität gedrängt. Zwar wurden die Mandate im Reichstag und in den Landtagen nicht kassiert, aber – zunächst befristet auf zweieinhalb Jahre – alle sozialdemokratischen Organisationen, die ihr nahestehenden Gewerkschaften und ihre Publikationen verboten. Verstöße wurden mit hohen Geld- und Gefängnisstrafen geahndet. Hunderte Sozialdemokraten wurden aufgrund des § 28 des Gesetzes als „Agitatoren“ aus ihren Heimatorten ausgewiesen, tausende in den Betrieben entlassen, einige gingen ins Exil, wo sich seit 1848 bereits Karl Marx und andere Kommunistinnen und Kommunisten aufhielten. Andere – vor allem die Abgeordnete wie Wilhelm Liebknecht oder August Bebel – blieben auf ihrem Posten. Die Partei stand vor der schwierigen Aufgabe, legale und illegale Formen der Arbeit miteinander zu verbinden und eine Antwort auf das Verbot ihrer Zeitungen, unter anderem des programmatisch tonangebenden „Vorwärts“ zu finden. Einige wie der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Hasselmann propagierten eine Taktik des individuellen Terrors und gaben zur Förderung solcher Aktionen das Blatt „Freiheit“ heraus. Marx und Engels entfalteten eine intensive Brief- und Gesprächstätigkeit, um der damals noch revolutionären Sozialdemokratie zu helfen, eine präzise und der Lage angemessene Reaktion auf diesen, wie wir heute vielleicht sagen würden, Umbau des bürgerlichen Staatsapparates zu finden. Am 1. April 1880 schrieb Engels in einem Brief an Johann Philipp Becker: „Die ‚Freiheit‘ soll mit aller Gewalt das revolutionärste Blatt der Welt werden, aber das bringt man damit nicht fertig, dass man das bloße Wort Revolution in jeder Zeile wiederholt.“[1] Die Hauptgefahr aber kam nicht von anarchistisch-individualterroristischer Seite. Sie kam vom Rechtsopportunismus. Seine um Eduard Bernstein herum gruppierten Kräfte wollten, juristisch auf Privatpersonen gestützt, eine neue Zeitung in Zürich herausgeben und dabei auch Marx und Engels in ein solches Blatt einbinden. Ihre schroffe Antwort erteilten die beiden in einen „Zirkularbrief“ an die damalige Parteispitze, der heute ein wenig in Vergessenheit geraten ist – zu Unrecht, denn er enthält wichtige grundsätzliche Anmerkungen zur revolutionären Strategie und Taktik in Zeiten, in denen revolutionäre Kräfte von rechts unter Druck kommen. Insbesondere arbeiten die beiden Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus dort die strikte Notwendigkeit heraus, sich in jeder Situation unbeirrt auf die Arbeiterklasse zu verlassen. Sie lehnten es folglich ab, in einem Blatt zu publizieren, in dem auch die Position gedruckt wurde, der deutsche Sozialismus habe „zuviel Wert auf die Gewinnung der Massen gelegt und dabei versäumt, in den sog. oberen Schichten der Gesellschaft energische Propaganda zu machen“[2] Beide lästerten: „Kurz: die Arbeiterklasse aus sich selbst ist unfähig, sich zu befreien. Dazu muß sie unter die Leitung ‚gebildeter und besitzender‘ Bourgeois treten, die ‚allein Gelegenheit und Zeit haben‘, sich mit dem vertraut zu machen, war den Arbeitern frommt. Und zweitens ist die Bourgeoisie beileibe nicht zu bekämpfen, sondern durch energische Propaganda – zu gewinnen.“[3] Konsequent fordern sie in einer solchen Situation nicht weniger, sondern mehr zugespitzten Klassenkampf, die Festigkeit, sich nicht auf Nebenkampfplätze abdrängen zu lassen und verweisen darauf, die Notwendigkeit des revolutionären Bruchs unbeirrt in den Mittelpunkt des Handelns der Partei zu stellen: „Inzwischen wendet man seine ‚ganze Kraft und Energie‘ auf allerhand Kleinkram und Herumflickerei an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, damit es doch aussieht, als geschehe etwas und gleichzeitig die Bourgeoisie nicht erschreckt werde. … Es sind die Repräsentanten des Kleinbürgertums, die sich anmelden, voll Angst, das Proletariat, durch seine revolutionäre Lage gedrängt, möge ‚zu weit gehn‘. Statt entschiedner politischer Opposition – allgemeine Vermittlung; statt des Kampfes gegen Regierung und Bourgeoisie – der Versuch, sie zu gewinnen und zu überreden, statt trotzigem Widerstand gegen Mißhandlungen von oben – demütige Unterwerfung und das Zugeständnis, man habe die Strafe verdient. Alle historisch notwendigen Konflikte werden umgedeutet in Mißverständnisse und alle Diskussionen beendigt mit der Beteuerung: in der Hauptsache sind wir ja alle einig.“[4] In diesen Fragen, so betonen sie, darf es kein Wanken geben: „Wir haben seit fast 40 Jahren den Klassenkampf als nächste treibende Kraft der Geschichte, und speziell den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat als den großen Hebel der modernen sozialen Umwälzung hervorgehoben...“[5]
Darauf hinzuweisen ist heute deshalb wichtig, weil vor uns – diese Prognose sei hier gewagt – eine Phase ähnlicher jäher Wendungen liegt, in denen die Linke in Deutschland mit Verzweiflungs-Liebäugelei Richtung individuellen Terrors einerseits und vor allem mit Anbiederungsempfehlungen an den sogenannten Zeitgeist andererseits zu kämpfen haben wird. Wie oben beschrieben besteht die auf den ersten Blick etwas komplizierte Dialektik gegenwärtiger ideologischer Kämpfe darin, dass die Rechtsentwicklung teilweise im Gewande eines seines Klasseninhalts entleerten Antifaschismus um die Ecke kommt und naive Geister verwirrt. Die Situation wird noch etwas komplizierter dadurch, dass Kräfte, die selbst tatsächlich faschistische Wurzeln haben, ohne jeden Zweifel die AfD mit prägen. Als Beispiel sei hier nur Alexander Gauland genannt, der nach wie vor Strategie und Taktik diese Partei erheblich mit bestimmt und der ein politischer Zögling von Alfred Dregger ist, der, später hessischer Landesvorsitzender der CDU und Hauptfigur des sogenannten „Stahlhelm“-Flügels seiner Partei, ohne Reue und mit unverhohlenen Stolz öffentlich darauf hinwies, er habe Breslau bis zu letzten Patrone gegen die Rote Armee verteidigt.[6]
Geschichte wiederholt sich nicht – das bedeutet eben auch: Die Herrschenden des imperialistischen Deutschlands planen mindestens zur Zeit keinen neuen Januar 1933. Die von ihnen nach Kräften medial und politisch geförderte Erstarkung der AfD erfüllt eine andere Funktion, auf die Jürgen Lloyd an dieser Stelle vor einem Monat hingewiesen hat. Es gibt eben nicht nur den Faschismus an der Macht, sondern auch den Faschismus als Instrument derer, die an der Macht sind. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Die Spezifik der jetzigen Situation besteht darin, dass die AfD zwei Funktionen gleichzeitig erfüllt: Sie wird als Treibmittel eingesetzt, um die Koordinaten der Innen- wie der Außenpolitik immer weiter nach rechts zu verschieben und gleichzeitig als Schreckgespenst, um mit Verweis auf die vermeintliche Wiederholung des Januar 1933 eine Nebelwand zu ziehen, hinter der materiell und ideologisch der große Krieg gegen Russland und China und damit den Kern der BRICS-Staaten vorbereitet wird, die die alte Vormacht des USA/EU-Blocks immer deutlicher zu gefährden beginnen.
Der Verweis auf die nach mühsamen Auseinandersetzungen durchgesetzte Klarheit im Kampf gegen die Sozialistengesetze ist deshalb nützlich, weil im „Zirkularbrief“ bereits die Ankerpunkte herausgearbeitet wurden, an denen sich jeder in Sturm, Nebel und Gewitter immer noch orientieren kann: Vertrauen auf die und strikte Orientierung an den Interessen der Arbeiterklasse, keine Anbiederung an Regierung und Bourgeoisie, fester Blick auf die sozialistische Revolution als historische Mission der Arbeiterklasse.
Eine vorletzte Anmerkung noch: Wer unhistorisch die Blaupause 1933 als Meßlatte für heutige Politik anlegt, wird konsequenterweise diese Orientierung auf die eigene Klasse zurückzustellen haben. Es liegt ja auf der Hand: Wenn wirklich eine offene Diktatur nicht des Kapitals, nicht des Finanzkapitals, sondern eines Teils des Finanzkapitals, also eines Teils eines Teils des Kapitals für die nächste Jahre drohen würde, müßten die revolutionären Kräfte auch heute einen Schulterschluß mit anderen Teilen des Kapitals, ja sogar Teilen des Finanzkapitals suchen, um diese Gefahr für Leib und Leben abzuwehren. Diejenigen, die das empfehlen, sollten dann auch erklären können, wie das mit einem scharfen Klassenkampf gegen alle anderen Teile des Kapitals noch vereinbar sein soll. Es ist völlig klar: Dieser Klassenkampf hätte zurückzustehen. Das aber wäre genau das, wogegen Marx und Engels zur Recht angesichts der deutschen Sozialistengesetze so vehement gekämpft haben.
Wer eine Ahnung haben will, was uns tatsächlich bevorsteht, muß nur die gegenwärtigen Meldungen aufmerksam lesen und er oder sie wird dabei verwiesen weder auf das Jahr 1878 noch auf 1933, sondern auf 1968, also dem Jahr der Einführung der westdeutschen Notstandsgesetze, die nach der Einverleibung der DDR nun in ganz Deutschland aktuelle Rechtslage sind. Die von Kräften der CDU in den letzten Wochen immer häufiger öffentlich vorgetragene Erwägung, doch bitte den „Spannungsfall“ auszurufen, ist keine Wortakrobatik. Der Begriff ist vielmehr der Schlüssel zur Scharfschaltung dieser Notstandsgesetze. Ihre Anwendung wäre der militaristisch-reaktionäre Staatsumbau, der die viel größere, aktuell naheliegende und bereits praktisch sichtbare Gefahr für alle Fortschrittskräfte ist. Mit den Notstandsgesetzen sich näher zu beschäftigen ist das, was in der jetzigen Lage dringend nötig wäre.
Manfred Sohn
[1]Engels an Johann Philipp Becker, Marx Engels Werke (MEW) Band 34, Berlin 1966, S. 440
[2]Marx/Engels an August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Wilhelm Bracke u.a. in Leipzig (Zirkularbrief), MEW 34, a.a.O., S. 403, Hervorhebungen wie auch in allen weiteren Zitaten im Original
[3]ebenda
[4]ebenda, S. 404f
[5]ebenda, S. 407
[6]Dazu mehr mit Quellenhinweis auf diese Äußerung in: Manfred Sohn, Falsche Feinde, Was tun gegen die AfD?, Hamburg 2017, S. 14
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