Interview UZ 20-02-2015

Die Zeitung der DKP, "Unsere Zeit" veröffentlichte zum 45. Jahrestag der Marx-Engels-Stiftung das folgende Interview mit Hermann Kopp:

UZ: Die Marx-Engels-Stiftung wurde 1970 anlässlich des 150. Geburtstages von Friedrich Engels gegründet. In welchem politischen Umfeld geschah das?

In einem zweifellos günstigeren als dem, in dem wir uns heute bewegen. Im März 1969 wurde Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt; und wenn man den – nicht bloß atmosphärischen – Unterschied zu heute an einem einzigen Amtsträger festmachen wollte, dann drängt sich der Vergleich Heinemann – Gauck geradezu auf. Ein halbes Jahr später wurde Willy Brandt Bundeskanzler. Beides wäre kaum möglich gewesen ohne den Aufschwung außerparlamentarischer Bewegungen: die Ostermärsche, die Bewegungen gegen die Notstandsgesetze, gegen den Vietnamkrieg, für Entspannungspolitik, für die Anerkennung der DDR. Im Nachhinein wird das oft auf „68“ und antiautoritäre Studentenbewegung reduziert. Aber es hatte seit langem und überall in der Gesellschaft gegärt, und die Wirtschaftskrise von 1966/67, die erste in der Geschichte der BRD, hat das ihre dazugetan.
Parallel dazu wuchs das Interesse an einer grundlegenden gesellschaftlichen Alternative. Und damit am Marxismus. Trotz KPD-Verbot. Das ist zwar bis heute nicht aufgehoben, und auch in den 60er Jahren wurden noch Genossen wegen Verstößen gegen das Verbot eingebuchtet – aber die gesellschaftliche Akzeptanz der Kommunistenhatz schwand zusehends. Deshalb konnten 1963 die Marxistischen Blätter erscheinen – obwohl der Verfassungsschutz natürlich wusste, wer da „dahintersteckte“. Und konnte sich im Herbst 1968 die DKP als legale marxistische Partei konstituieren. Übrigens nach Gesprächen mit Heinemann, der damals noch Justizminister in der großen Koalition unter Kiesinger war.
Die Gründung der Marx-Engels-Stiftung, wie zuvor schon, 1969, des IMSF in Frankfurt unter Leitung von Jupp Schleifstein und Heinz Jung, war eine Antwort auf das gewachsene Interesse am Marxismus. Aber auch Ausdruck der Notwendigkeit, dem authentischen Marxismus gegen alle möglichen „Marxismen“ Gehör zu verschaffen. Zumindest unter den Studis, die sich 1968 plötzlich für Marxisten hielten, hatten viele, außer vielleicht dem Manifest, an „marxistischen“ Schriften (mit und ohne Anführungszeichen) kaum mehr gelesen als ein paar Zitate aus der für 2 Mark vertriebenen roten Mao-Fibel und das eine oder andere von Herbert Marcuse oder Wilhelm Reich. Ich war da keine Ausnahme, hatte damals noch kaum begonnen, mich mit Marx zu beschäftigen. Und trotzdem saß ich 1967, als AStA-Mitglied an der Münchner Uni verantwortlich für die Studentenzeitung, auf dem Podium bei einer Veranstaltung „Mao, Marx, Marcuse – was wollen die Studenten?“ Die fand im brechend vollen Schwabinger Bräu statt, war von dem CSU-Bundestagsabgeordneten Prinz Konstantin von Bayern organisiert worden, um den „Marxisten“ das Wasser abzugraben – und endete mit deren Triumph. Über die CSU. Weil „Mao, Marx, Marcuse“ – bzw. das, was darunter verstanden wurde – „in“ war.
Tempi passati. Um auf deine Frage zurückzukommen: Dass unsere Stiftung dann im November 1970 gegründet wurde, und in Wuppertal, hatte natürlich auch mit dem spezifischen lokalen Umfeld zu tun. Engels ist bekanntlich im heutigen Wuppertaler Stadtteil Barmen geboren. Die SPD war bemüht, ihn als eine Art Stammvater für ihre Politik zu reklamieren, und die damals SPD-regierte Stadt hat deshalb zu Engels’ Geburtstag einen Festakt organisiert, bei dem Brandt in Anwesenheit zahlreicher Honoratioren die Gedenkrede hielt. Dem sollte, dem musste von unserer Seite (das sag ich heute, ich war damals noch kein Kommunist!) etwas entgegen gehalten werden. Wurde eine tolle Sache. Aber darüber schweig ich mich jetzt aus. Dazu wird, hoff ich doch, die UZ im Herbst mehr berichten, wenn der 45. Geburtstag der Stiftung ansteht. Die übrigens zunächst „Friedrich-Engels-Stiftung“ hieß, erst später ihren heutigen Namen erhielt.

UZ: Was waren und sind die Hauptfelder eurer Tätigkeit?

In § 2 unserer Satzung heißt es, ich zitiere:
„Der Zweck des Vereins ist die Erforschung des wissenschaftlichen Werks von Marx und Engels und seiner geschichtlichen Wirksamkeit. Der Satzungszweck wird erfüllt
- durch Sammlung und Erforschung ihres wissenschaftlichen Nachlasses und ihres Lebens und Wirkens;
- durch wissenschaftliche Seminare, Symposien, Kolloquien und andere wissenschaftliche Veranstaltungen;
- durch Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und Herausgabe von Eigenpublikationen;
- durch Vergabe von Forschungsaufträgen an Einzelpersonen und Personengruppen.“
Daran hat sich seit 1970 nichts geändert. Seit 1990 mussten wir uns allerdings weitgehend damit begnügen, wissenschaftliche Veranstaltungen durchzuführen und deren Ergebnisse wenigstens teilweise zu veröffentlichen; erst neuerdings können wir z.B. wieder daran denken, auch bezahlte Forschungsaufträge zu vergeben. Im Grunde geht es bei all dem darum, den authentischen Marxismus zu nutzen, um die heutige Wirklichkeit zu begreifen. Die ganze Wirklichkeit. Die nicht auf Ökonomie und Politik reduziert werden kann. Dass die ökonomischen Analysen vom Marx und Engels brandaktuell sind, ungeachtet der gravierenden Veränderungen der kapitalistischen Gesellschaftsformation, pfeifen heute die Spatzen von den Dächern; aber die beiden haben eben, anders als viele, die sich auf sie berufen, immer auch die kulturellen und geistigen Vermittlungsformen im Blick behalten.
Ich bin im Übrigen vorsichtig geworden, was die Definition dessen angeht, was als „authentischer“ Marxismus zu gelten hat. Lenin gehört für mich ganz entschieden dazu; aber auch Rosa Luxemburg, Georg Lukács, Antonio Gramsci. Der Leninist Gramsci, nicht der weichgespülte! Ungeachtet der Differenzen, die es zwischen ihnen gibt. Und bei einer Tagung, die wir letztes Jahr zusammen mit der Internationalen Erich Fromm Gesellschaft durchgeführt haben, wurde mir klar, dass es ein dummer Fehler wäre, die Grenzen – die es zweifellos gibt – zu eng zu ziehen. Ich hatte nämlich Fromm – von dem ich kaum etwas kannte – nie für einen wirklichen Marxisten gehalten. Ob er einer ist, weiß ich immer noch nicht. Aber dass auch seine Überlegungen uns helfen können, das Heute besser zu verstehen, das habe ich bei dieser Gelegenheit gelernt.

UZ: Die Stiftung hat Ende Januar ihre Jahreshauptversammlung durchgeführt, Bilanz über die Arbeit des vergangenen Jahres gezogen. Wie fällt diese aus?

Lass mich etwas tun, was seltsamerweise auch „bei Kommunistens“ für unfein gilt: vom Geld reden. Und etwas weiter ausholen. Im Herbst 2010 drohte der Stiftung das finanzielle Aus: Seit den späten 90er Jahren hatten wir Kredite im sechsstelligen Bereich aufnehmen müssen, um das Wuppertaler Marx-Engels-Zentrum – ein Mietshaus, das in den 70er Jahren gekauft, dessen Instandhaltung aber lange Zeit sträflich vernachlässigt worden war – vor dem Verfall zu retten. Aus den laufenden Mieteinnahmen war mit Müh und Not der langfristige Bankkredit zu bedienen (den wir noch bis Ende dieses Jahrzehnts abstottern müssen), konnten wir aber nicht einen hohen zinslosen Privatkredit ablösen, der wider Erwarten zum Jahresende 2010 gekündigt wurde. Dank der Hilfe einiger Genossen, die für neue Darlehen ihre eigenen Konten räuberten, ist uns das binnen weniger Wochen gelungen – ein kleiner Sieg. Der auch unsere eigentliche Arbeit, die politisch-wissenschaftliche Tätigkeit der Stiftung und deren Absicherung, beflügelt hat. Wir haben die laufenden Kosten dann drastisch reduziert, haben 2011 erstmals ernsthaft Mitgliederwerbung betrieben und damit unsere Einnahmen erhöht – und konnten so zugleich die Zahl unserer Veranstaltungen deutlich steigern.
Zur finanziellen Seite der Frage nach der „Bilanz 2014“ gehört freilich auch die großartige Spende unseres US-amerikanischen Genossenehepaar Erwin und Doris Marquit. Die Marquits haben uns, in Kenntnis unserer Probleme, nicht nur seit 2011 massiv unterstützt, sondern uns 2014 einen beträchtlichen Teil ihres Erbes zukommen lassen. Damit konnten wir z.B. die neuen Privatdarlehen vorzeitig zurückzahlen.
Doch nun zur politischen Bilanz. Ende 2010 hatten wir 62 Mitglieder, heute sind es 164. 2010 hatten wir 7 Tagungen, im letzten Jahr waren es 18. Etliche davon hatten Teilnehmerzahlen weit über 50 – darunter zwei mit einer für die ME-Stiftung eher untypischen Thematik: eine Konferenz „Zum Verhältnis von Hirnforschung, Psychologie und Menschenbild“ in Münster und die bereits angesprochene zu „Kapitalismuskritik in Anschluss an Erich Fromm“. Sehr gut besucht war auch eine relativ kurzfristig einberufene Tagung zum Ukraine-Konflikt in Frankfurt, trotz konkurrierender Veranstaltungen vor Ort. Und selbst unser Seminar zu einem scheinbar ganz abgelegenen Thema, zu Solon von Athen (um 600 v.u.Z.), fand 21 begeisterte Teilnehmer/innen.
Das Marx-Engels-Zentrum in Berlin-Charlottenburg, im Herbst 2013 eröffnet, führt inzwischen fast wöchentlich Veranstaltungen durch. Hier ist, auf eine Initiative aus unseren Reihen, eine neue MASCH entstanden, die sich, was die Fülle und Attraktivität ihres Angebots angeht, hinter den in Bremen und Hamburg seit langem existierenden nicht zu verstecken braucht.
Es geht also sichtbar aufwärts. Insofern können wir zufrieden sein. Ohne doch die ungelösten Probleme zu übersehen. Das gravierendste: Wir sprechen mit unseren Tagungen noch zu wenig junge Leute an. Daran müssen wir arbeiten.

UZ: Bei einem Blick auf die Terminplanung der MES fällt auf, dass diese „sehr dicht“ ist. Kann man ein solches Programm allein „stemmen“?

Unser Programm für 2015 umfasst jetzt schon an die 20 Tagungen. Die eine oder andere kommt sicher aus aktuellem Anlass noch dazu. Nein, allein können wir das nicht stemmen – wir arbeiten schließlich alle ehrenamtlich, alle unsere Vorstandsmitglieder sind auch in anderen Zusammenhängen aktiv. Bei einem Großteil unserer Veranstaltungen haben wir Kooperationspartner – etwa die VVN-BdA NRW, mit der zusammen wir am 18. April eine Konferenz zum Umgang der BRD mit Tätern und Opfern des Naziregimes durchführen, oder nur eine Woche später, am 25.4., die Tagung aus Anlass des 40. Jahrestags der Befreiung Vietnams, bei der wir von der Freundschaftsgesellschaft Vietnam unterstützt werden. Schon seit vielen Jahren arbeitet die ME-Stiftung eng mit dem Marxistischen Arbeitskreis zur Geschichte der Arbeiterbewegung bei der Partei Die Linke zusammen, dieses Jahr u. a. bei einer Veranstaltung „Was bleibt von der DDR?“, die Mitte September stattfinden wird – in Vorbereitung des ominösen Jahrestags 3. Oktober. Aber solche Kooperationen – zuweilen mit Partnern, die sich keineswegs als Marxisten verstehen – sind alles andere als eine Notlösung. Sie sind auch ein gutes Mittel gegen das Schmoren im eigenen Saft.