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Marx und Nachfolgende zu den Voraussetzungen von Revolutionen

Generationen von Revolutionärinnen und Revolutionären haben seit den Tagen des „Kommunistischen Manifest“ weltweit dafür gewirkt, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu überwinden und eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. 

Die Perspektive, unter sie kämpften und kämpfen, hat Karl Marx im Vorwort seines Werkes „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ so formuliert: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.  Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. … Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann…“[1]

Auffallend an diesem vielzitierten Text ist, daß der Begriff der „Gesellschaft“ hier nicht näher erläutert wird. Was der Autor unter „Gesellschaft“ versteht, erhellt sich allerdings durch einen Verweis gleich zu Beginn dieses Vorworts: „Eine allgemeine Einleitung, die ich hingeworfen hatte, unterdrücke ich, weil mir bei näherem Nachdenken jede Vorwegnahme erst zu beweisender Resultate störend schien…“[2]. Dieser „hingeworfene“ Text ist aus seinem handschriftlichen Nachlass zum Glück erhalten und in ihm spricht Marx hinsichtlich der „Methode der politischen Ökonomie“ von einem „gegebenen Land“, das mit dieser Methode zu analysieren sei. Der Bezugsrahmen dieses Ende der 1850er Jahre entstandenen Textes ist also national, nicht global.

Die Welt ist seitdem nicht stehengeblieben. Sie war schon damals, wie die beiden jungen Männer Karl Marx und Friedrich Engels im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 darlegten, geprägt durch die Herstellung des kapitalistischen Weltmarktes. Der entstand nicht harmonisch, sondern blutig unter der Fuchtel der europäischen, damals vor allem von Großbritannien angeführten, im rasanten Aufstieg begriffenen Großmächte, die sich, gegenseitig wegbeißend, mehr und mehr den Rest der Welt untertan machten. Die so entstandenen Kolonien und Halbkolonien dienten dem europäischen Kapital nicht nur als Quellen weiterer Profite. Ein Teil dieser Profite wurde bewußt abgezweigt zur Ruhigstellung der „eigenen“ Arbeiterklasse in den Hochburgen des Kapitals. Die hatte zum Schrecken der gerade an die Macht kommenden Bourgeoisie in den 1848er Revolutionen von Wien über Berlin bis Paris ihre grundsätzliche Bereitschaft dokumentiert, „den ganzen ungeheuren Überbau“ vom Kopf auf die Füße zu stellen, also Revolution tatsächlich zu machen. Die Schlußfolgerungen daraus hat Cecil Rhodes[3] im Jahres 1895 so formuliert: „Ich war gestern im Ostende von London (Arbeiterviertel) und besuchte eine Arbeitslosenversammlung. Und als ich nach den dort gehörten wilden Reden, die nur ein Schrei nach Brot waren, nach Hause ging, da war ich von der Wichtigkeit des Imperialismus mehr denn je überzeugt … Meine große Idee ist die Lösung des sozialen Problems, d.h., um die vierzig Millionen Einwohner des Vereinigten Königreichs vor einem mörderischen Bürgerkrieg zu schützen, müssen wir Kolonialpolitiker neue Ländereien erschließen, um den Überschuß an Bevölkerung aufzunehmen, und neue Absatzgebiete schaffen für die Waren, die sie in ihren Fabriken und Minen erzeugen. Das Empire, das habe ich stets gesagt, ist eine Magenfrage. Wenn Sie den Bürgerkrieg nicht wollen, müssen Sie Imperialisten werden.“[4] Wir zitieren diese Einsicht hier anhand eines Werkes des Marxisten Lenin, weil die Frage, warum es denn – anders als noch von Marx und Engels mindestens erhofft – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts  in Westeuropa keine neue revolutionäre Erhebung gegeben hat, ohne dessen Einsichten schwer zu beantworten ist. Lenin hat nicht nur den britischen Imperialismus, sondern auch andere europäische Imperialismen studiert und schreibt, einen französischen Schriftsteller zitierend: „Infolge der zunehmenden Schwierigkeiten des Lebens, die nicht nur auf den Arbeitermassen, sondern auch auf den Mittelklassen lasten, sieht man, wie sich in allen Ländern der alten Zivilisation ‚Ungeduld, Empörung und Haß, die den öffentlichen Frieden bedrohen, wie sich deklassierte Energien, tumultartige Gewalten anhäufen, die es einzudämmen gilt, um sie für irgendeine große Sache außerhalb des Landes zu gebrauchen, soll nicht eine Explosion im Innern erfolgen.‘“[5]

Vulgär-flapsig formuliert: Die brutale Ausplünderung der ganzen außereuropäischen Welt hat zwischen 1850 und heute dem westeuropäischen (und seit 1918 dem US-amerikanischen) Kapital in seinen Kernländern den Arsch gerettet. Ohne die Ergänzung der Rücksichtslosigkeit gegenüber den eigenen Völkern, die die Herrschenden im Rahmen der von Marx so bezeichneten „ursprünglichen Akkumulation“[6] gezeigt hatten, durch eine mindestens ebenso brutale Rücksichtlosigkeit gegenüber Millionen und Abermillionen außereuropäischer Menschen hätte der „ganze ungeheure Überbau“ der bürgerlichen Gesellschaften auch in Westeuropa den heutigen Tag nicht erlebt. 

Gestützt auf Lenin haben diesen Zusammenhang viele kommunistische Gruppen und Parteien in Westeuropa gesehen – und ganz unterschiedliche Schlußfolgerungen daraus gezogen. Eine beschrieb Torkil Lauesen, ein dänischer Genossen, so: „Wir waren eine kommunistische Gruppe mit Sitz in Kopenhagen, gegründet Mitte der 60er Jahre, und wir wollten eine Revolution in Westeuropa. Die dortige Arbeiterklasse war an höheren Löhnen interessiert, nicht am Sozialismus. Man war mit dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat durchaus zufrieden. Unsere Erfahrungen und Analysen des Kapitalismus führten uns damals zu dem Schluss, daß es ohne einen Sieg der ‚dritten Welt‘ über den Imperialismus keine Revolution bei uns im imperialistischen Zentrum geben würde. Wir gingen vielmehr davon aus, dass dafür die sozialistischen Revolutionen im globalen Süden die ‚Pipelines‘ kappen mussten, die den Wert von der Peripherie ins Zentrum ‚übertragen‘, von dem die Arbeiterklasse im Norden profitiert. Wir nahmen also eine globale Perspektive in Bezug auf die sozialistische Revolution ein.“ Er beschreibt dann, wie die „neoliberale Offensive … den antiimperialistischen Geist der 60er Jahre“ zerschlagen hätte und fügt mit Blick auf die jüngere Vergangenheit an: … „Die Transformation ist in jeder Hinsicht gewaltig. Durch die Globalisierung … wurden auf der Suche nach höheren Profiten Hunderte Millionen von Industriearbeitsplätzen aus dem globalen Norden in die Niedriglohnländer des Südens verlagert. Im Jahre 1980 gab es im globalen Süden ungefähr so viele Industriearbeiter wie im Norden. Heute sind es 85 Prozent im globalen Süden.“[7] Er beschreibt anschließend, wie daraus – wie bei Goethes Zauberlehrling – mit China als Zentrum inzwischen eine Macht geworden ist, die sich nun gegen den imperialistischen Block mit seinem Doppelzentrum USA und Westeuropa wendet. 

Im Kern und einige wenige Generationen imperialistischer Politiker von Cecil Rhodes bis Annalena Baerbock mental zusammenfassend hat also der Versuch, die Revolution in Westeuropa durch aggressive Ausbeutung des Rests der Welt zu verhindern, nur zu einer Globalisierung revolutionärer Kräfte geführt. Das ist das Wesen der Prozesse, die sich gegenwärtig unter der Überschrift der Multipolarität und der Vollendung der Dekolonialisierung abspielen. 

Zurück zu Marx in den späten 1850er Jahren: Der Prozess, den Marx in wenigen Sätzen skizziert, findet in seinen Grundzügen genau so statt – nur eben nicht auf eine nationalen Basis, sondern globalisiert und dadurch komplexer als das auf einer nur nationalen Ebene vonstatten ginge. Im Zentrum dieses Prozesses steht ein Begriff, den Marx in den wenigen Zeilen gleich dreimal verwendet, als wolle er ihn als den zentralen Begriff allen Lesern ins Hirn hämmern: Produktivkräfte. Die Frage der Entwicklung der Produktivkräfte ist also von der Frage der revolutionären Umwälzung nicht zu trennen. Sie steht vielmehr in ihrem Zentrum. Wer das nicht begreift, wird von der Geschichte verprügelt. Einer der zum Glück noch lebenden Zeugen dieser Einsicht, ein Verprügelter also, hat das kürzlich so formuliert: „Wir scheiterten … vor allem an der fehlenden ökonomischen Potenz. ‚Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung‘, prophezeite Lenin 1919. Daran sind wir gescheitert. Die Chinesen haben gelernt – von Lenin und aus unseren Fehlern.“[8]

Eine Ergänzung ist vielleicht noch nützlich. Wir haben das Eingangszitat dort enden lassen, wo es vielfach in der Sekundärliteratur endet. Aber hinter „lösen kann“ geht der Satz noch weiter: „…denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.“[9]

Wer nur auf das westeuropäische Anhängsel des asiatischen Kontinents blickt, übersieht den Prozess des Werdens der materiellen Bedingungen der Lösung der revolutionären Aufgaben, die in dieser Welt heranreifen. Deshalb wäre es ein – früher durchaus verzeihlicher, mit unserem heutigen Wissen unverzeihlicher – Fehler, sich im deutschen Seitenarm der Geschichte als Revolutionäre in nichtrevolutionären Zeiten mißzuverstehen und zu versuchen, daraus eine politische Strategie abzuleiten. Das wäre ja so, als hätte derjenige Bauer in einem Dorf mitten im katholischen Eichsfeld im Jahre 1848 oder 1918 recht gehabt, der, sich die atemberaubenden Erzählungen von den Ereignissen in Frankfurt oder Berlin anhörend, geantwortet hätte: „Geht mich nix an – hier ist alles ruhig und friedlich und bleibt auch so.“  

Manfred Sohn


 
[1] Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Marx Engels Werke (MEW), Band 13, Berlin 1975, S. 9
[2] Ebenda, S. 7
[3] Cecil Rhodes, geboren 1853, gestorben 1902, in seiner Jugend geprägt durch längere Aufenthalte in Südafrika, 1890 bis 1895 Premierminister der Kapkolonie und einer der prägenden Politiker des britischen Imperialismus
[4] Hier zitiert nach Wladimir Iljitsch Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in  Lenin, Ausgewählte Werke in sechs Bänden (LAW), Band II, Frankfurt/Main 1970, S. 719
[5] Zitiert nach Lenin, a.a.O., S. 725
[6] Ausführlich dargestellt im „Kapital“ – siehe MEW 23, Berlin 1974, S. 741ff
[7] „Die treibende Kraft wird der globale Süden sein“, Gespräch mit Torkil Lauesen, junge welt, 2./3. Dezember 2023, Wochenendbeilage S. 1 und 2
[8] „So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben“ – Interview mit Egon Krenz, Wochenzeitung „unsere zeit“, 19. Januar 2024, S. 13
[9] Karl Marx, a.a.O., S. 9